Hagen. Die Hälfte der Bürger nimmt Nahrungsergänzungsmittel. Björn Grobe aus Hagen gehört dazu. Warum er das tut und Experten den Trend skeptisch sehen
Einige Löffel Pulver in Flüssigkeit einrühren und das Glas austrinken. Für Björn Grobe die tägliche Routine. Drei Kinder, 24 Angestellte und viel Sport verlangen jeden Tag seine volle Kraft. Um leistungsfähig zu bleiben, setzt der Inhaber einer Physiotherapiepraxis in Hagen auf nahrungsergänzende Produkte – mit klingenden Namen wie „Activize“ oder „Restorate“. Laut Verbraucherzentrale ist er damit nicht allein. Mittlerweile greift mindestens die Hälfte der Bevölkerung zu Nahrungsergänzungsmitteln. Woher dieser Trend? Und wie sinnvoll sind die Präparate?
Vor 20 Jahren bekam Björn Grobe Neurodermitis im Gesicht. Kortison-Creme war das Einzige, das ihm half. „Da habe ich gemerkt, dass das System so ein bisschen an seine Grenzen stößt.“ Seitdem hat er verschiedenste Ergänzungsprodukte ausprobiert, sich zum Ernährungsberater im Leistungssport weitergebildet und sagt heute. „Ich empfehle jedem, der es nicht schafft, ausreichend Obst und Gemüse zu essen, mit diesen Produkten zu unterstützen, um Nährstofflücken zu schließen.“
Grobe hat sich auf Produkte der Marke „Fitline“ festgelegt. Das Unternehmen selbst bewirbt seine Produkte nicht. Auch in den Ladenregalen sucht man sie vergeblich. Ihr Vertrieb funktioniert ausschließlich über solche Empfehlungen. Ein Pyramidensystem: Aus Kunden werden Empfehlungsgeber, die sich hocharbeiten und Fortbildungen besuchen können. Durch ihn hätten sich jetzt schon 250 Menschen für die Produkte entschieden, sagt Björn Grobe, der dafür Boni erhält. Es seien weniger Verkaufsgespräche, die er mit den Leuten führe, lieber bezeichnet er es als Austausch.
Auch seine Kinder bekommen die Produkte
Auch seine Kinder, drei, sieben und neun Jahre alt, bekommen regelmäßig die Produkte. „Die sollen nicht nur im Stress großwerden, auf alles verzichten zu müssen.“ Er sei froh, dass wenn es an der Schule mal eine Waffelaktion gebe oder Süßigkeiten verteilt würden, die Kinder so ihre Nährstoffe trotzdem bekämen. „Wir ernähren uns zusätzlich Bio und gesund“, sagt der Familienvater. Das eine schließe das andere nicht aus. „Ich sehe einen Trend zu fett oder fit: Menschen, die sich entweder stark mit ihrem Leben auseinandersetzen und Menschen, die immer träger werden.“
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Dass Schokolade und Pommes in Massen nicht gut seien, wüssten seine Patienten. Oft fehle es aber einfach an Zeit und Energie zum Kochen. Antriebslosigkeit, Gewichtszunahme und Gelenkprobleme. Nicht erst seit Corona seien das zunehmend Probleme, mit denen viele zu kämpfen hätten. Die Nahrungsergänzungsmittel böten „einen leichten Anfang etwas zu verändern und mehr Energie zu haben.“
Absatzzahlen haben sich seit der Pandemie nahezu verdoppelt
Tatsächlich haben sich die Absatzzahlen seit der Pandemie nahezu verdoppelt, sagt Angela Clausen, Wissenschaftliche Referentin für Lebensmittel im Gesundheitsmarkt bei der Verbraucherzentrale NRW. Exakte Zahlen lägen aber nur über die Produkte vor, die in den Apotheken verkauft werden – und das seien bereits zwei bis drei Milliarden Euro pro Jahr. Dabei gebe es nur ganz wenige Personengruppen, bei denen man überhaupt Nahrungsergänzungen in Erwägung ziehen sollte, wie Stillende oder Schwangere zum Beispiel. „Sie sind jedoch in keinem Fall dafür vorgesehen, Krankheiten zu heilen oder zu lindern.“
Rechtlich gesehen würden Nahrungsergänzungsmittel behandelt wie Lebensmittel, sagt auch Diplom-Oecotrophologe Klaus Gerling aus Menden. „Das heißt, es gibt null Wirkungskontrolle seitens des Gesetzgebers.“ Er stößt sich an einer Kommunikation, die suggeriert, nahrungsergänzende Produkte könnten eine gesunde Ernährung als Basis ausgleichen. Trotzdem sei die Nachfrage groß bei Sportlern, bei jungen Frauen, die etwas für ihre Schönheit tun möchten oder bei älteren Menschen. „Da gibt es ein ganz breites Spektrum.“In 95 Prozent der Fälle seien die Produkte jedoch überflüssig. „Die Leute essen relativ viel – selbst, wenn sie sich einigermaßen schlecht ernähren, sieht man einen Mangel zum Beispiel an Vitaminen oder Mineralstoffen sehr selten. In seiner Mendener Praxis für Ernährungsberatung versuche er viel eher seinen Patienten den Konsum von Ergänzungsmitteln auszureden, denn oft kämen diese mit Nebenwirkungen wie Darmbeschwerden zu ihm.
Vitamin-D-Mangel weit verbreitet
Für gesunde Menschen könne er keinerlei Empfehlung aussprechen. Viel eher rate er zur Einhaltung der klassischen Ernährungspyramide: „Wenn ich die dahin kriege, haben sie alles, was sie brauchen.“ Eine Ausnahme sei jedoch Vitamin D: „Das kriegt man über die Ernährung nicht ausreichend mit.“ Im Durchschnitt hätten 80 bis 90 Prozent der Bürger hier einen Mangel. Die Faustformel heiße: erst messen, dann nachdosieren.
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Björn Grobe, der Physiotherapeut aus Hagen, bleibt ein überzeugter Anhänger der Nahrungsergänzungsmittel und rät sie auszuprobieren: „Ob man sie nimmt, muss jeder für sich selber entscheiden. Ich finde immer, wenn jemand sich auf die Reise macht, muss er immer selbst wissen: Womit fühle ich mich wohl und womit nicht.“
>> STICHWORT: Ernährungspyramide
- Die Ernährungspyramide gliedert Nahrungsmittel in Gruppen und zeigt, welche für eine gesunde Ernährung öfter gegessen werden sollten und welche nur in gewissen Grenzen. Der Bedarf an Kohlenhydraten, Eiweiß, Fett sowie allen Vitaminen und Mineralstoffen soll so gedeckt werden. Ziel ist es, sich abwechslungsreich und nach Möglichkeit saisonal und regional zu ernähren.
- Mehr Infos der Verbraucherzentrale zu Nahrungsergänzungsmitteln unter klartext-nahrungsergaenzung.de