Hagen. Femizid kennt weder Zeit noch Raum: Das Theater Hagen bringt zwei Erlösungsgeschichten von Bela Bartok zusammen, den Mandarin und Herzog Blaubart.

Die Erlösung des Mannes aus seiner gewalttätigen Einsamkeit durch die opferbereite Frau ist ein beliebtes Motiv in der Kunst. Am Theater Hagen wird das Thema jetzt aus zwei Perspektiven als Hommage an den Komponisten Béla Bartók untersucht: Als Katz- und Maus-Krimi in der Oper „Herzog Blaubarts Burg“ sowie als sozialen Gruppenprozess in dem Ballett „Der wunderbare Mandarin“. Der Doppelabend ist künstlerisch in jeder Hinsicht herausragend. Das zahlenmäßig kleine Publikum feiert ihn mit viel Beifall und Bravorufen.

Der ungarische Komponist Béla Bartók (1881 – 1945) erlebt derzeit eine Renaissance an den Theatern NRWs, ausgelöst durch seinen 140. Geburtstag im Jahr 2021, der dem Lockdown zum Opfer fiel. Düsseldorf und Dortmund hatten Bartoks einzige Oper „Blaubart“ auf dem Programm, teils im Videostream, Essen zeigt den „Blaubart“ ab Februar und Hagen koppelt ihn mit der Pantomime „Der wunderbare Mandarin“.

Frauenmörder hinter Gittern

Hagens Intendant Francis Hüsers als Regisseur rollt mit Bühnenbildner Alfred Peter das Seelendrama gleichsam von hinten auf. Eine Frau betritt mit ihrem Aktenkoffer das Gefängnis, in dem der Frauenmörder Blaubart seine Strafe verbüßt. Diese Judith sieht aus wie die junge Jodie Foster; und der Film „Das Schweigen der Lämmer“ liefert auch das Setting für Hüsers‘ Interpretation der symbolistisch extrem aufgeladenen Blaubart-Legende. Die junge Frau verfällt der Faszination des Mörders, sie versucht, hinter seine verschlossenen Seelentüren zu kommen, sie reibt sich an den Gitterstäben, sie weitet mit Blaubart gemeinsam das Gefängnis zu einer Projektion von Licht, Liebe, Freiheit und Träumen. Und dann?

In der Oper gibt keine Aktion, es handelt sich um ein Seelendrama, transportiert durch die Dialoge zwischen Blaubart und Judith. Das könnte langweilig sein, aber die ausgezeichneten Sänger verwandeln den Stoff in ein ebenso beklemmendes wie berührendes Theatererlebnis. Die ungarische Mezzosopranistin Dorottya Láng, welche die Judith bereits in Düsseldorf sang, beherrscht ein weites Spektrum musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten auch im Dialogischen. Naivität, Sehnsucht nach Liebe und Exotik sowie die professionelle Neugierde der Forensikerin/Gerichtspsychiaterin verbinden sich stimmlich zu einer faszinierend-explosiven Mischung. Der koreanische Bass Dong-Won Seo beobachtet die Anstrengungen seiner Gegenspielerin mit Pokerface und leichtem Lächeln und kann mit seiner wohlklingenden, großen Stimme verführen und manipulieren.

Die Psychodynamik dreht sich

Die Bühne ist im Schwarzraum angesiedelt und schlicht möbliert: ein Käfig mit Gitterstäben, ein rundes Wasserbecken, zwei Stühle. Mit der 5. Tür dreht sich die Psychodynamik. Nun hat Blaubart Oberwasser. Im Orchester setzt die Orgel ein, und Videoprojektionen weiten den Horizont zu Blaubarts Reich, das räumlich und zeitlich von den badenden Elefanten in Südostasien bis zu Stonehenge reicht. Femizid ist keine Erfindung der Neuzeit. Am Ende wird die Handlung zum Thriller. Die Gefängniswände rücken wieder näher. Schafft Judith es rechtzeitig raus?

GMD Joseph Trafton und das groß besetzte Philharmonische Orchester Hagen leisten Großartiges, denn sie spielen diese komplexe Partitur, die zwischen Spätromantik, Volksmusik und neuen Tönen schillert, wie in einem Atem, mit fein ausgeleuchteten zauberhaften Farben im Detail und einer weit schwingenden, sehr berührenden Trauermusik im Finale.

Das Orchester spielt großartig

Das Orchester unter Trafton bringt auch den „Wunderbaren Mandarin“ zum Blühen, in dem Béla Bartók eine völlig andere, nun expressionistische Tonsprache einsetzt, welche die Geräusche der Großstadt in Rhythmus verwandelt und so getrieben ein groteskes Seelengemälde urbaner sozialer Verwerfungen malt. Der Stoff spielt im Milieu, und das war bei der Uraufführung in Köln 1927 ein solcher Skandal, dass Oberbürgermeister Adenauer weitere Aufführungen verbat. In den Abgründen der Metropole muss das Mädchen die Freier anlocken, die dann von den Strolchen ermordet und ausgeraubt werden. Nur ein Mandarin kann nicht sterben, erst, als das Mädchen ihn in die Arme nimmt, findet er Erlösung.

Von dieser Handlung bleibt bei dem renommierten Choreografen Kevin O’Day wenig übrig. Die Akteure werden politisch korrekt und genderfluide multipliziert, so gibt es statt des einen Mädchens einen Sexarbeiter und zwei Sexarbeiterinnen, und der Mandarin tritt gar nicht erst auf, sondern steht als Symbolbild für den Puff. Das ist nicht selbsterklärend; man muss O’Days Erläuterungen im Programmheft vorher lesen. Das Ensemble findet auf hohem Niveau, angetrieben von Bártóks Musik, Bilder für die Dynamik großstädtischer Gruppenbildungsprozesse, Annäherungen, Scheinverbrüderungen, Territorialkämpfe und Rivalitäten werden in eine virtuose, akrobatisch atemberaubende Bewegungssprache übersetzt, die Elemente von Street Dance integriert und die Compagnie immer wieder mit überraschenden Einfällen wie der Raupenhocke zu sozialen Skulpturen gruppiert. Am Ende steht jedoch trotz aller übereinander und nebeneinander geschichteten Tänzerkörper eine bittere Erkenntnis. Jeder stirbt für sich allein.

Karten und Termine: www.theaterhagen,de