Hagen. Ist der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik zu groß? Ada Pellert leitet in Hagen die größte Uni Deutschlands. Sie hat eine klare Meinung.

Mit rund 76.000 Studierenden leitet sie die größte Hochschule Deutschlands: Prof. Ada Pellert ist ist seit 2016 Rektorin der Fernuniversität in Hagen. Frisch wiedergewählt startet die 59-jährige Österreicherin im März in ihre zwei Amtszeit. Lockerer angehen will sie diese nicht: Die Wirtschaftswissenschaftlerin, die Expertin für Organisationsmanagement und Digitalisierung ist, will, dass die Wissenschaft wahrnehmbarer wird. Und der Gesellschaft besser erklärt, was sie tut.

Wissenschaftler sind in der Pandemie so präsent wie nie. Aber sie werden auch zur Zielscheibe von Kritik. War es trotzdem ein gutes Jahr für die Wissenschaft?

Ada Pellert Es war ein sehr intensives Jahr für die Wissenschaft – mit allen Höhen und Tiefen. Gesellschaft und die Politik haben schon sehr stark auf die Wissenschaft gehört, sich Rat geholt haben, um auf Fakten basierende Entscheidungen zu treffen. Zu den Tiefen gehört, dass wir eine sehr aufgeheizte Stimmung haben, in der einige weniger den rationalen Diskurs suchen als vielmehr Sündenböcke. Und da bieten sich offensichtlich auch Wissenschaftler, die einfach nur ihren Job machen, als Projektionsflächen an. Das ist populistisch, das ist Hetze. Da müssen wir als Gesellschaft sagen: Halt, das geht nicht. Man kann Wissenschaftler nicht an den Pranger stellen.

Bei aller Wertschätzung der wissenschaftlichen Kompetenz: Es gibt auch die Kritik, dass die Politik nicht Ratschläge der Wissenschaft einfach nur quasi automatisch umsetzen kann. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Es ist ja in den vergangenen Monaten deutlich geworden, dass Wissenschaft und Politik unterschiedliche Spielfelder sind: Politik kann ihre Entscheidungen nicht delegieren an die Wissenschaft. Sie kann aber, wenn sie klug ist, ihre Entscheidungsgrundlage verbessern, indem sie auf Wissenschaft hört. Die Politik holt sich Rat und Unterstützung zur Interpretation der Lage, aber natürlich muss die Politik die Entscheidung treffen. Und das ist es eben nicht ein Eins-zu-Eins-Befolgen eines bestimmten Rates. Am Ende des Tages muss man entscheiden und in Entscheidungen fließen dann verschiedene Argumente ein. Aber nur Expertenmeinungen zu exekutieren, wäre nicht richtig. Das wäre eine Expertokratie, die ich nicht will.

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Was muss die Wissenschaft besser machen?

Was wir in den vergangenen Monaten gesehen haben: Es ist gar nicht so einfach, als Wissenschaftler zu kommunizieren. Wissenschaftler sind plötzlich in einer Umgebung, die ihnen große mediale Aufmerksamkeit bringt. Aber viele sind nicht gut vorbereitet. Ich glaube, da muss Wissenschaft noch besser werden. Was mir persönlich aber das größte Anliegen ist: Wir brauchen interdisziplinäre Teams. Auch der neue Expertenrat der Bundesregierung ist ja interdisziplinär zusammengesetzt. Es ist besser für die Beratung der Politik, wenn da schon einmal unterschiedliche Disziplinen zu einem Konsens kommen müssen. Jeder, der in einem interdisziplinären Gremium war, weiß: Das ist anstrengend. Virologen sprechen lieber mit Virologen und Wirtschaftswissenschaftler mit Wirtschaftswissenschaftlern. Je mehr Diversität wir aber auch in der wissenschaftlichen Beratung haben, desto leichter ist es, ein gutes Beratungsergebnis zu erreichen.

Glauben Sie, dass junge Menschen den Weg in Forschung und Lehre scheuen, weil sie sehen, dass Wissenschaftler auch Angriffen ausgesetzt sind?

Ich glaube, es gibt für beides Hinweise. Zum einen haben wir ja gesehen, dass Virologen zu Medienstars werden können, was man ja vorher auch nie hätte erwarten können. Und viele Menschen setzen sich mit Kurven und Inzidenzen auseinander. In bestimmten Bereichen kann sich die Wissenschaft also nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Das macht den Bereich sicherlich attraktiv. Aber es hat natürlich auch die Schattenseiten, wenn man im Fokus der Öffentlichkeit steht und Angriffen ausgesetzt ist. Ich komme da noch einmal darauf zurück, wie wichtig das Thema Wissenschaftskommunikation ist. Wir müssen der Öffentlichkeit die Mechanismen der Wissenschaft besser erklären. Wissenschaft beruht darauf, dass einer ein Argument sucht, das den Thesen des anderen widerspricht. Das ist die Produktivkraft, der Kern. Für die breite Öffentlichkeit sieht das dagegen oft nach Streit aus.

Sie sind Fachfrau für Digitalisierung. Breiter Tenor ist: Die Gesellschaft ist in der Pandemie viel digitaler geworden. Stimmt das? Oder kratzt das eher an der Oberfläche und außer, dass wir jetzt alle Videokonferenzen machen, hat sich nicht viel geändert?

Es ist ja gut, dass wir alle Erfahrungen machen mit digitalen Formaten, aber trotzdem kratzen wir da tatsächlich eher an der Oberfläche. So lange wir bislang etablierte Prozesse nur versuchen in digitale Schläuche fließen zu lassen, haben wir die tatsächliche digitale Transformation noch nicht geschafft. Da haben wir in vielen Bereichen noch eine große Wegstrecke vor uns. In dem Hagener Manifest der Fernuni zum New Learning haben wir das aufgegriffen. Auf den Bereich der Bildung geschaut bedeutet das: Wir müssen uns als Universität oder als Schule erst über die Ziele bewusst werden. Was wollen wir erreichen? Und dann schauen, wie wir das Ziel mit digitalen Mitteln erreichen. Und nicht nur die vorhandenen Strukturen ein bisschen digitaler machen.

Hätte die neue Bundesregierung ein eigenes Digitalministerium schaffen müssen, um diese Transformation zu beschleunigen?

Kein Gremium dieser Welt und auch kein Ministerium dieser Welt kann diese Herkulesaufgabe allein stemmen. Das ist auch meine Erfahrung aus den drei Jahren, in denen ich Mitglied des Digitalrats der Bundesregierung war. Selbst wenn es so etwas gäbe wie ein Digitalministerium, müsste es anders arbeiten können als im klassischen Ressortprinzip. Die Frage der Digitalisierung ist eine Querschnittsaufgabe, man muss begreifen, dass das eine gesellschaftliche Transformation ist, an der kein Fachbereich vorbeikommt: Ob Landwirtschaft, Bildung oder Justiz. Eine Regierung müsste sich also eher fragen: Was sind unsere fünf Ziele im Bereich der Digitalisierung, die wir in den nächsten Jahren wirklich erreichen wollen. Und wie kommen wir dahin, dass sich jeder diesen Zielen verpflichtet fühlt. Dann braucht es sicherlich so etwas wie eine Steuerungsinstanz, aber die wäre ja in dem jetzt entstandenen Digital- und Verkehrsministerium vorhanden.

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Sie sind gerade erst für eine zweite Amtszeit als Rektorin der Fernuniversität gewählt worden, die im kommende März beginnt. Die Pandemie hat der Fernuni quasi in die Karten gespielt. Lernen und Lehre auf Distanz gehört bei Ihnen zum Prinzip. Also : Alles gut? Können Sie die zweite Amtszeit locker angehen?

Nein, das wäre auch nicht ich, wenn ich nicht meine Zeit und meine Energie dafür verwenden würde, einfach noch mal ein Stück weiter zu kommen. Was wir noch weiter voran treiben wollen, ist das Thema digitale Prüfung. Das war ja im deutschsprachigen Raum einfach sehr klassisch auf Präsenzprüfungen ausgerichtet. Und natürlich betone ich auch weiter unsere Mission als Fernuni: Wir sind nicht nur die Universität mit den meisten Studierenden, sondern auch die mit denen, die genau mitten im Leben stehen und zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ein Studium oder Teile eines solchen aufnehmen wollen. Wir haben unsere Standorte in ganz Deutschland jetzt nicht umsonst in Campus umbenannt. Wir wollen einfach, dass die Fernuni Hagen als Netzwerk-Uni wahrgenommen wird. Und ich glaube, wir können noch einen interessanten Sprung machen, wenn wir zu den großen Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit weiter Forschungsschwerpunkte bündeln.

Die Fernuni alleine?

Mein Ziel ist es, dass sich Universitäten weiter vernetzen. Hier in NRW sind wir mit der digitalen Hochschule NRW gut aufgestellt, da haben sich schon mal 42 Hochschulen zusammengetan. Aber ich glaube, mit Hilfe der Fernuni könnte man noch mehr vernetzen und da sehe ich uns als wichtigen Knotenpunkt.