Hagen. Per Telegram verabredet: Vom Sauerland bis ins Ruhrgebiet gibt es nun Protest-„Spaziergänge“. Die Lage in den Kreisen und wie der Staat reagiert.
Das NRW-Innenministerium stuft nun die sogenannten Montags-„Spaziergänge“ gegen Corona-Maßnahmen als Versammlungen ein, die – wie Demonstrationen – im Vorfeld angemeldet werden müssen. Das ist bislang in den meisten Fällen nicht geschehen, vielmehr waren die „Spaziergänge“ als spontane Zusammenkünfte von protestierenden Bürgern inszeniert worden. Die Polizei hat daher bereits vielerorts Strafverfahren eingeleitet, um mögliche tatsächliche Organisatoren zu ermitteln.
Auch für den Montag nach Weihnachten werden landesweit wieder Protest-Spaziergänge erwartet. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass die Polizei diese auflösen wird, wenn sie nicht im Vorfeld angemeldet worden sind. Dies, so das Innenministerium auf Anfrage dieser Zeitung, könne nur das letzte Mittel sein, da die im Artikel 8 des Grundgesetzes verankerte Versammlungsfreiheit einen hohen Stellenwert habe.
In Lüdenscheid bislang die größte Veranstaltung
Dem Landes-Innenministerium sind bislang 231 solcher „Spaziergänge“ in ganz Nordrhein-Westfalen bekannt, wobei unklar ist, ob tatsächlich alle Veranstaltungen nach Düsseldorf gemeldet worden sind. Seit Anfang Dezember haben die Protest-Spaziergänge auch in zahlreichen Kommunen in Südwestfalen stattgefunden – von ländlichen Gebieten wie Brilon, Bad Berleburg, Meschede oder Lennestadt bis zu großen Städten wie Hagen, Iserlohn und Lüdenscheid. Dort im Märkischen Kreis gab es mit rund 500 Teilnehmern in der vergangenen Woche auch die bislang größte Veranstaltung.
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Zwar werden in der Regel keine Plakate gezeigt oder Parolen skandiert, gleichwohl geht das Innenministerium von einer „öffentlichen Meinungskundgabe in Form eines stillen Protests“ aus. Es gebe bei den lokalen Veranstaltungen auch einen deutlichen Bezug zu den landes- und bundesweiten Aktionen, die mit Anspielung auf die Demonstrationen in den letzten Monaten der DDR meist montags stattfinden.
Verfassungsschutz will Protestszene intensiv beobachten
Dem Messangerdienst Telegram misst der NRW-Verfassungsschutz eine große Bedeutung bei der Vernetzung der Akteure und der Organisation der „Spaziergänge“ bei. Das NRW-Innenministerium beobachtet zwar generell, dass sich auch Akteure aus dem Spektrum der Rechtsextremisten und Reichsbürger an den Anti-Corona-Maßnahmen öffentlichkeitswirksam beteiligen, sie seien dort aber weiterhin nicht dominierend. Gleichwohl kündigte der NRW-Verfassungsschutz an, die Protestszene gegen die Corona-Maßnahmen weiter intensiv zu beobachten.
In Dortmund war es in der vergangenen Woche zu Auseinandersetzungen zwischen Teilnehmern der „Spaziergänge“ und der Polizei gekommen. Im Kreis Unna hat der dortige Landart, Mario Löhr (SPD), den Protestlern vorgeworfen, „dem Rechtsstaat auf die Füße treten“ zu wollen, indem sie das Versammlungsrecht versuchten zu umgehen. Zuletzt war der Eindruck entstanden, dass die Behörden unterschiedlich konsequent mit den „Spaziergängen“ umgehen. Das NRW-Innenministerium hat zwar allen Polizeidienststellen eine „rechtliche Einschätzung“ an die Hand gegeben, vor Ort müssten sie aber den konkreten Einzelfall bewerten, so ein Sprecher.
>> Fragen und Antworten zu den „Spaziergängen“:
Warum müssen die „Montags-Spaziergänge“ angemeldet werden?
Das NRW-Innenministerium sieht hier eben keine spontanen Zusammenkünfte ohne einen politischen Hintergrund. Auch ohne Transparente oder Sprechchöre komme „ihnen dennoch objektiv erkennbar eine öffentliche Meinungskundgabe in Form eines stillen Protests zu“. Für die Annahme einer Versammlung, die angemeldet werden müsse, spreche auch die Ankündigung der „Montags-Spaziergänge“ in Chatgruppen wie bei Telegram. Diese wiesen Mitgliederzahlen von bis zu mehreren hundert Menschen auf und, so das Ministerium, „unterscheiden sich daher deutlich von einem überschaubaren Freundes- oder Bekanntenkreis“. Zudem zeigten schon die Titel der Chatgruppen Kritik an den coronabedingten Freiheitsbeschränkungen.
Werden die „Spaziergänge“ NRW-weit einheitlich behandelt?
Es gibt zwar Empfehlungen, aber dennoch muss die Polizei vor Ort jeden einzelnen „Spaziergang“ einzeln bewerten. Das NRW-Innenministerium habe den Polizeibehörden eine rechtliche Einschätzung zu der Frage an die Hand gegeben, ab wann von einer Versammlung auszugehen sei, so ein Ministeriumssprecher. Die Polizei vor Ort müsse aber ermessen, ob das Versammlungsgesetz es zulasse, Einschränkungen vorzunehmen – etwa bestimmte Auflagen zu erteilen. „Die Auflösung einer Versammlung, auch einer nicht angemeldeten, kann vor dem Hintergrund des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 des Grundgesetzes dabei immer nur die Ultima Ratio darstellen“, so ein Ministeriumssprecher. Sprich: Die Auflösung wäre also das letzte Mittel.
Ist die Teilnahme an solch einem unangemeldeten „Spaziergang“ strafbar?
Nein, die bloße Teilnahme an einem solchen unangemeldeten Protest-„Spaziergang“ stellt in der Regel keine strafbare Handlung dar. Anders sieht es für die Organisatoren aus, die die „Spaziergänge“ faktisch organisiert haben. Ein Verstoß gegen die Anmeldepflicht für Versammlungen sei eine strafbare Handlung, so ein Sprecher des NRW-Innenministeriums, und werde von den Kreispolizeibehörden von Amts wegen zur Anzeige gebracht: „Ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, wer Versammlungsleiter ist, wird die Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet.“
Welche Rolle spielt der Messangerdienst Telegram?
Die Einschätzung des NRW-Verfassungsschutzes ist klar: „Mittlerweile nutzt die Corona-Leugner-Szene fast ausschließlich den Messenger-Dienst Telegram, um zu kommunizieren, sich untereinander zu vernetzen und die nächsten Demonstrationen zu planen.
Wie aktiv sind Rechtsradikale oder Reichsbürger bei den Montags-„Spaziergängen“?
Seit Beginn der Pandemie beteiligten sich immer wieder Personen aus dem Spektrum der Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“ an Protestveranstaltungen gegen die Corona-Maßnahmen. Sie seien aber nicht dominierend, so das NRW-Innenministerium: „Eine wesentliche Prägung der Veranstaltungen durch Mitglieder der – polizeilich bekannten – rechten Szene ist weiterhin nicht erkennbar.“ Gleichwohl: Der NRW-Verfassungsschutz zeigt sich hellhörig angesichts der „Vielzahl von Kleinstgruppen, die sich überwiegend über soziale Medien vernetzen und auch überregional an Veranstaltungen von Impfgegnern“ teilnähmen. Man prüfe fortlaufend, ob es bei diesen Gruppierungen Überschneidungen mit der rechtsextremistischen Szene gebe. Einflussnahme-Versuche seien zuletzt immer wieder festgestellt worden. Erkennbar sei, so der Verfassungsschutz, „dass neue Gruppierungen durch Verschleierungstaktik mit vermeintlicher Kapitalismuskritik versuchen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, um darüber gesellschaftlich anschlussfähig zu werden“.
Über die „Montags-Spaziergänge“ hinaus: Wie bewertet der Verfassungsschutz die Protest-Szene gegen die Corona-Maßnahmen?
Bei den Teilnehmern an verschiedensten Demonstrationen, so die Einschätzung des NRW-Verfassungsschutzes, handele es sich „um eine überaus heterogene Gruppierung von Corona-Leugnern, Impfverweigerern, Verschwörungsmythikern, Esoterikern, vereinzelt bekannten rechtsextremistischen Personen bis hin zu Personen aus der bürgerlichen Mitte mit widersprüchlichen und ideologisch schwer greifbaren Argumentationsmustern“. Insgesamt ergebe sich das Bild eines „zersplitterten, fragmentierten und in sich nicht geschlossenen Corona-Protestmilieus mit einer teils widersprüchlichen politischen oder gesellschaftlichen Agenda“. Für den Verfassungsschutz seien in NRW etwa 300 Personen relevant, die wesentlich zur Organisation und zum Fortgang des Protestgeschehens beitrügen: „Zum Umfeld der Corona-Leugner zählen allerdings tausende Personen.“
Wie sieht die Situation in Südwestfalen aus?
Märkischer Kreis: Laut Polizei gab es in unterschiedlichen Städten „Spaziergänge“ mit 20 bis 500 Teilnehmern. Der erste habe am 6. Dezember in Lüdenscheid stattgefunden, der letzte am 22. Dezember in Herscheid. Angemeldet wurden sie alle im Vorfeld nicht. Die Polizei hat sie begleitet, Maßnahmen gegen Versammlungsteilnehmer gab es bislang nicht.
Ennepe-Ruhr-Kreis: Hier gab es seit dem 10. Dezember insgesamt sechs „Spaziergänge“ in Schwelm, Gevelsberg und Hattingen – mit Teilnehmerzahlen zwischen 25 und 100 Personen. Auch hier waren alle nicht angemeldet. Die Polizei hat die Veranstaltungen begleitet, sie seien auch friedlich und störungsfrei verlaufen. Eine Anzeige gegen Unbekannt wurde erstattet, um Organisatoren des „Spaziergangs“ in Schwelm am 22. Dezember zu ermitteln. Der Polizei im EN-Kreis ist auch die Ankündigung eines weiteren Spaziergangs noch in diesem Jahr bekannt. Sie macht klar: Die Veranstaltung muss 48 Stunden im Voraus angemeldet werden.
Siegen-Wittgenstein: Mehrere „Spaziergänge“ haben bislang stattgefunden; unter anderem in Bad Berleburg, Siegen und Wilnsdorf. Die Teilnehmerzahl, so die Polizei, habe zwischen 100 und 200 Personen gelegen. Nicht alle Versammlungen seien angemeldet worden, etwa in Bad Berleburg und Wilnsdorf. Hier wurden Anzeigen erstattet, gegen die Teilnehmer selbst gab es bislang keine Maßnahmen. Weitere „Spaziergänge“ sind laut Polizei inzwischen angemeldet worden. Teilweise sollten diese in einem wöchentlichen Turnus stattfinden. Auch hier mahnt die Polizei: Sie müssen 48 Stunden im Voraus angemeldet werden.
Hagen: Nach kleinen „Spaziergängen“ mit 3 bis 20 Teilnehmern hat in Hagen der erste größere am 15. Dezember mit etwa 230 Teilnehmern stattgefunden, in der Woche drauf waren es laut Polizei 290 Teilnehmer. Die Besonderheit hier: Sie sind ausnahmslos im Vorfeld angemeldet worden.
Hochsauerlandkreis: Seit dem 11. Dezember hat es „Corona-Spaziergänge“ in Arnsberg , Brilon, Meschede und Winterberg mit 20 bis 120 Teilnehmern gegeben. Angemeldet waren sie laut Polizei allesamt nicht – entsprechend wird auch ermittelt. Allerdings seien sei friedlich und störungsfrei verlaufen.
Kreis Olpe: Hier gab es „Spaziergänge“ in Olpe, Attendorn und im Lennestädter Bereich. Die Anzahl der Teilnehmer variierte laut Polizei im zweistelligen Personenbereich. Angemeldet waren sie alle nicht. Die Polizei ermittelt nun nach den Organisatoren deshalb und hat auch Personalien von Teilnehmern als potenzielle Zeugen festgestellt.
>> HINTERGRUND: Mehrheit für Corona Maßnahmen
- Die Proteste gegen Corona-Maßnahmen sorgen immer wieder für öffentliches Aufsehen. Die überwiegende Mehrheit befürwortet die Maßnahmen allerdings – oder sie gehen ihnen nicht weit genug. Da hat zuletzt der NRW-Check gezeigt, eine repräsentative Forsa-Umfrage im Dezember, die unter anderem auch von der WESTFALENPOST in Auftrag gegeben wurde:
- 63 Prozent gehen die Maßnahmen nicht weit genug, 18 Prozent finden sie angemessen, nur 15 Prozent halten sie für zu weitgehend.
- 63 Prozent halten auch einen harten Lockdown für richtig, sollten die Infektionszahlen drastisch steigen, 32 Prozent finden das falsch.
- 73 Prozent befürworten eine allgemeine Impfpflicht, 24 Prozent lehnen sie ab.
- Info: Die an 100 Prozent fehlenden Angaben entfallen auf „keine Angabe/weiß ich nicht“.