Hagen. Vertauschter Impfstoff, steigende Inzidenzen und die Angst vor Quarantäne an Weihnachten: Die Verunsicherung in Familien ist derzeit riesengroß.

Es hat schon Nächte gegeben, in denen Beate Schmidt aufschreckte und sich all die Fragen erneut stellte, auf die sie am Tag keine Antworten gefunden hatte. Und am Tag davor. Und am Tag davor. „Es gibt kein anderes Thema mehr und ich bin davon so unglaublich gestresst und genervt, dass man es sich kaum vorstellen kann“, sagt die Hagenerin. Gemeint sind die Dinge, die derzeit vor allem ihre beiden Kinder – acht und sechs Jahre alt – betreffen. Impfen oder nicht? Und wirklich jetzt noch in die Schule schicken oder nicht? Bis einen Tag vor Weihnachten, während in den Klassenzimmern die Corona-Infektionen reinhageln?

Eltern schicken Kinder nicht mehr in die Schule, weil es zu gefährlich scheint

Viele Eltern sind derzeit tief ­verunsichert. Beispiel: Wetter an der Ruhr. Am dortigen Geschwister-Scholl-Gymnasium hat es zuletzt ­einige Neu-Infektionen gegeben, ­mindestens zehn dringende Verdachtsfälle der hochansteckenden Variante Omikron. Die Schulpflegschaft wandte sich am Wochenende mit einem Brief an das Landesschulministerium, die Bezirksregierung Arnsberg und den Ennepe-Ruhr-Kreis mit der dringenden Bitte, „Distanzunterricht an den letzten vier Schultagen des ­Jahres 2021“ zu genehmigen. Die Behörden schüttelten zunächst den Kopf.

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Die Schule öffnete am Montag, doch neben den in Quarantäne befindlichen Schülern „hatten wir eine extrem hohe Zahl an Krankmeldungen“, wie Schulleiterin Ursula Zimmer sagt. Botschaft: Macht ihr gern Schule, aber ohne uns. Zu groß sind die Bedenken. Ab Dienstag bleibt die Schule nun hoch offiziell geschlossen.

Angst: Quarantäne über Weihnachten

Beate Schmidt, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, würde dies auch an der Grundschule ihrer Kinder begrüßen. „Eine Aufhebung der Schulpflicht für den Rest der Woche fänd‘ ich gut, um den Druck aus der Sache zu nehmen und allen ein schönes Fest mit der Familie zu bescheren“, sagt sie. Alle zwei Tage werden die Kinder in der Schule getestet. Jedes Mal könnte danach eine Quarantäne anstehen – auch über Weihnachten. „Wir müssen bis zum letzten Schultag bibbern.“

„Der ganze Druck lastet auf den Eltern“

Eigentlich. Denn Beate Schmidt behält ihre Kinder mit Attest zu Hause. Beide sind – nach langer Überlegung und trotz noch ausstehender Empfehlung der Ständigen Impfkommission – frisch geimpft und sollen mindestens eine Woche keinen Sport machen. Das muss und will sie im Auge haben.

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Denn so ganz wohl ist ihr – obwohl selbst längst geboostert – die Sache nicht. Im Grunde, sagt sie, gebe es nur zwei Möglichkeiten für Kinder: Infektion ohne Schutz und Infektion mit Schutz. Sie hat sich für Letzteres entschieden, nach langen, zermürbenden Tagen und Nächten. „Man wird irgendwie mit all dem allein gelassen. Der ganze Druck lastet auf den Eltern.“

Sie ist nur froh, dass ihre Kinder die Impfung erhielten, bevor die Schlagzeilen aus dem Kreis Olpe sie erreichten. Dort hatte es am Wochenende einen Zwischenfall im Impfzentrum gegeben, der für Aufsehen sorgte: Drei Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren sind nach Angaben des Kreises unbeabsichtigter Weise in Attendorn statt mit dem zugelassenen Impfstoff Biontech mit Moderna geimpft worden.

Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Körperverletzung

Den Kindern scheint es gut zu gehen. Die Eltern erstatteten Anzeige bei der Polizei, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Körperverletzung.

Theo Melcher, der Landrat des Kreises Olpe, hat am Montag an die Eltern gedacht, die derzeit mit sich ringen, ob sie ihre Kinder impfen lassen sollen. Ein Vorfall wie in Attendorn könne das Vertrauen in die Impfkampagne erschüttern. „Der Kreis Olpe“, so Melcher weiter, hat umgehend Maßnahmen ergriffen, um einen solchen Fehler künftig auszuschließen.

Fast zeitgleich und knapp 60 Kilometer entfernt im Impfzentrum der Stadt Hagen hat der ehemalige Chefarzt der Kinderklinik im Allgemeinen Krankenhaus, Gerhard Koch, am Sonntag Jungen und Mädchen zwischen 5 und 11 Jahren geimpft. „Eine bedauerliche Verwechslung wie in Attendorn ist Gift für die Impfkampagne“, sagt der Kinderarzt, „sie führt zu Verunsicherung.“

Sicherheitsvorkehrungen im Impfzentrum nochmal auf dem Prüfstand

Die Impfzentren im Land, das wisse er, unternähmen große Anstrengungen, dass so etwas nicht passiere. So gelte eigentlich die Regel: nur eine Impfstoffsorte pro Impfkabine.

In Attendorn habe ein Mensch einen Fehler gemacht, sagt Koch. „Es gilt jetzt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Impfzentren, aus diesem Vorfall zu lernen.“

Das Impfzentrum in der Hagener Stadthalle hat am Montag als Lehre aus dem aktuellen Fall im Sauerland vorsorglich seine Sicherheitsvorkehrungen noch einmal auf den Prüfstand gestellt. „Wir haben mit unserem Impfstoff-Lieferanten gesprochen. Dass womöglich die eigentlich auffälligen farblichen Kennzeichnungen an den Impfstoffdosen und den Spritzen noch weiter verstärkt werden.“

Eine gesellschaftliche Aufgabe

Gerhard Koch ist guter Dinge, dass die Verwechslung der Impfstoffe in Attendorn für die drei betroffenen Kinder keine gesundheitlichen Folgen haben wird. „Gott sei Dank“, sagt er, „vertragen Kinder Corona-Impfungen relativ gut. Und sie haben in der Regel ein starkes Immunsystem.“

Kürzlich ist Gerhard Kochs sechsjähriger Enkelsohn auf seinen Rat hin geimpft worden. „Wir dürfen beim Impfen nicht nachlassen.“ Koch spricht von der gesellschaftlichen Aufgabe in der Pandemie, dass möglichst viele Bundesbürger geimpft werden. „Impfungen schützen vor einem schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankungen. Es geht den Menschen mit Impfung besser als ohne.“

>> HINTERGRUND: Impf-Verwechslung in Olpe

Das Impfzentrum des Kreises Olpe in Attendorn gilt als eines der erfolgreichsten in NRW. Jetzt ist dort Kindern ein nur für Erwachsene vorgesehener Impfstoff geimpft worden. Wie konnte das geschehen?

Wie viele Kinder sind betroffen?

Der Kreis Olpe geht bislang von drei Kindern aus, die den Moderna-Impfstoff erhalten haben: ein Elfjähriger und zwei Geschwister (7 und 10). Ihnen allen geht es nach Auskunft des Kreises gut, sie sollen engmaschig ärztlich betreut werden. Laut Landrat Theo Melcher hätten sich bislang nicht noch mehr Eltern gemeldet. Der CDU-Politiker bedauert die Verwechslung: „Dafür entschuldige ich mich im Namen des Kreises und der impfenden Fachkraft, der das sehr leid tut.“

Was wurde den Kinder geimpft?

Die Kinder haben nach Auskunft von Mediziner Stefan Spieren, ärztlicher Leiter des Impfzentrums in Attendorn, jeweils eine Dosis von 50 Mikrogramm des Moderna-Impfstoffs erhalten. Das entspreche einer Booster-Dosis für Erwachsene. Aber: Diese Menge habe Moderna auch für die Kinder-Impfdosis geplant, die sich in der Zulassung befinde. Er erwarte daher keine gesundheitlichen Schäden bei den Kindern.

Wie konnte die Verwechslung geschehen?

Offensichtlich sind am Sonntag gegen 11.30 Uhr die Farben vertauscht worden: Der Impfstoff für Kinder habe einen orangefarbenen Deckel – dementsprechend seien auch alle weiteren Gegenstände für die Kinderimpfung orange markiert. Der Moderna-Impfstoff für Erwachsene habe hingegen eine rote Markierung. Hier scheine es bei einer Medizinisch Technischen Angestellten (MTA) zu einer Verwechslung gekommen zu sein. Die MTA sei eine erfahrene Kraft und nicht farbenblind. Aufgrund der frühen Zeit gehe man auch nicht von einer stressbedingten Verwechslung aus. Die Eltern der Geschwisterkinder, aber auch die Fachkraft selbst hätten die Verwechslung bemerkt und die Schichtleitung informiert.

Welche Konsequenzen werden aus dem Fall gezogen?

Der Kreis Olpe will (Booster-)Impfungen für Erwachsene und Kinderimpftermine nicht mehr gleichzeitig stattfinden lassen. Doch das hätte der Kreis auch schon vorher tun müssen, wie das NRW-Gesundheitsministerium auf Anfrage unserer Zeitung bestätigt: „Die Kreise und kreisfreien Städte wurden per Erlass angewiesen, die Impfangebote für Kinder getrennt von den übrigen Angeboten an Erst-, Zweit- oder Booster-Impfungen für Erwachsene und Jugendliche ab zwölf Jahren vorzuhalten.“ Das Ministerium und die Bezirksregierung seien derzeit mit dem Kreis Olpe im Austausch, „um zu klären, wie es zu dem Versehen kommen konnte“. Landesweiten Handlungsbedarf sieht das Ministerium nicht.

Gibt es juristische Konsequenzen?

Das könnte sein. Die Eltern der Geschwisterkinder haben Anzeige erstattet. Zuständig ist die Staatsanwaltschaft in Siegen. „Wir ermitteln wegen des Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung“, so Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Der Strafrahmen ginge bei bei einer Verurteilung von einer Geldstrafe bis zu drei Jahren Haft