Düsseldorf/Neunkirchen. Einblicke in die Arbeit eines Intensivmediziners in der vierten Corona-Welle: Was Dr. Timo Brandenburger jetzt für dringend notwendig hält.

Viele ungeimpfte Covid-Erkrankte treffen auf stark belastetes Klinikpersonal: Viele Intensivstationen im Land befinden sich bereits im Ausnahmezustand. Der gebürtige Siegerländer Dr. Timo Brandenburger ist Intensivmediziner und seit Anfang 2020 Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf.

Der Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, spricht angesichts steigender Infektionszahlen von einer „ernsten Notlage“. Wie dramatisch ist die Situation auf Ihrer Intensivstation?

Timo Brandenburger: Die Zahl der Covid-Patienten auf unserer Intensivstation nimmt stetig zu. Im Schnitt bleiben sie sehr viel länger auf der Intensivstation als andere Intensivpatienten. In Bayern ist die Lage inzwischen dramatisch, es ist zu erwarten, dass die Lage auch in NRW kritischer wird. Das Thema der Verlegung von Intensivpatienten von einer Region mit hoher Belastung in eine Region mit niedrigerer Belastung ist akut.

  Dr. Timo Brandenburger, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Düsseldorf.
  Dr. Timo Brandenburger, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Düsseldorf. © Pott | Universitätsklinikum Düsseldorf

Wie hoch ist der Anteil der Ungeimpften, die bei Ihnen intensivmedizinisch behandelt werden? Wie ist deren Altersstruktur?

Am Tag dieser Antwort ist nur ein Patient auf unserer Covid-Intensivstation geimpft. Alle anderen Patienten sind ungeimpft. Die Patienten sind allesamt eher jung – fast alle jünger als 60 Jahre. Ein Patient ist unter 40.

Wie ist die Stimmungslage unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern? Wie hoch ist der Druck, unter dem gearbeitet werden muss?

Die Stimmung auf den Intensivstationen ist schlecht. Sowohl im pflegerischen als auch im ärztlichen Dienst wurde seit Beginn der Pandemie sehr hart gearbeitet. Dies ist nicht nur der aufwendigen Versorgung von Covid-Patienten geschuldet, auch die aufwendige Kommunikation mit Angehörigen und die vielen Sterbenden belasten die Teams sehr. Und nun verschlechtert sich diese Stimmungslage durch zunehmende Patientenzahlen weiter.

Sie behandeln auch Menschen, die sich bewusst gegen eine Impfung entschieden haben oder eine Erkrankung womöglich fahrlässig herbeigeführt haben. Wie gehen Sie damit um?

Die Belastung auf den Intensivstationen ist tatsächlich sehr hoch, noch stärker ist diese bereits jetzt in Bayern und Ostdeutschland. Alle Patienten werden nach geltendem medizinischen Standard behandelt, das gilt selbstverständlich auch für Ungeimpfte.

Tritt bei Ungeimpften ein Sinneswandel ein, wenn sie sich plötzlich auf der Intensivstation wiederfinden oder leugnen sie womöglich weiter die Gefahren des Virus?

Tatsächlich tritt bei einer Mehrzahl der Ungeimpften – und auch deren Angehörigen – ein Sinneswandel ein, wenn die Krankheit schwer zugeschlagen hat. Häufig lag keine Impfgegnerschaft vor, sondern vielmehr ein Zögern, Unsicherheit, abwartendes Verhalten. Auch Vorbilder wie ungeimpfte Prominente und Sportler tragen zu solch zögerndem Verhalten bei. Patienten, die Covid bis in den Tod verleugnen, sind die absolute Ausnahme. Insbesondere für manchen Risikopatienten – etwa nach einer Nierentransplantation – ist die Entscheidung gegen die Impfung leider die letzte falsche Entscheidung des Lebens.

+++ Lesen Sie auch: So zerbrechlich ist die Lage in den Kliniken der Region +++

Welche Gründe führen Ungeimpfte an, warum sie sich gegen eine Impfung entschieden haben?

Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal sind es Ängste vor Langzeitfolgen, manchmal Ängste vor akuten Komplikationen wie den sehr seltenen Schlaganfällen oder den sehr seltenen Herzmuskelentzündungen. Diesem begegne ich damit, dass ich die Verhältnismäßigkeit zu einem schweren Covid-Verlauf klarmache. Diese spricht sehr, sehr klar für die Impfung.

Aus dem österreichischen Bundesland Salzburg hieß es, dass Kliniken Triage-Teams zusammenstellen, die künftig beraten sollen, wer noch intensivmedizinisch behandelt werden kann und wer nicht. Ist eine mögliche Triage auch bei Ihnen ein Thema?

Aktuell nicht. Meine Hoffnung ist, dass dies auch nie Thema werden wird. Ich als behandelnder Arzt möchte auch eine solche Entscheidung niemals treffen müssen. Dazu müsste es dann außenstehende Teams geben, die uns als „Corona-Ärzte“ von solchen Entscheidungen entlasten. Aber ich habe die Hoffnung, dass wir ohne diese Eskalation in Deutschland werden auskommen können.

+++ Lesen Sie auch: Corona-Rangliste: Bei Kindern extrem hohe Inzidenzen bis 850 +++

Ist die Behandlung von anders Erkrankten in Ihrem Haus wegen der Vielzahl an Covid-19-Fällen eingeschränkt? Müssen Operationen verschoben werden?

Viele unserer Intensivbetten werden von Covid-Patienten belegt. Häufig bleiben diese Patienten auch sehr lange auf der Intensivstation, zudem sind viele dieser Patienten von einer künstlichen Lunge, einer sogenannten ECMO, abhängig. Dies ist sehr aufwendig und bindet Personal, das für Patienten, die ein Intensivbett nach einer Operation benötigen, nicht da ist. Pauschale Einschränkungen der Versorgung bei planbaren Behandlungen aufgrund der Covid-Situation gibt es jedoch aktuell nicht, sind aber natürlich im weiteren Verlauf möglich.
+++ Lesen Sie auch: Künstliche Lunge: Die letzte Chance für Corona-Patienten+++

Zu Beginn der Pandemie wurde Klinikpersonal als „Helden der Corona-Krise“ beklatscht. Wird die Arbeit in der Öffentlichkeit ausreichend gewürdigt?

Ich denke schon, dass der Respekt in unserer Gesellschaft insbesondere auch für die Arbeit der Pflegenden in dieser Pandemie sehr groß ist. Der Pflegeberuf insbesondere im Intensivbereich ist sehr hart, und es ist eine Aufgabe an uns alle, dies so zu würdigen, dass Menschen langfristig in diesem Beruf arbeiten wollen.

Was haben Sie in der Pandemie über den Krankheitsverlauf gelernt?

Seit der Aufnahme des ersten Covid-Patienten auf unserer Intensivstation im Februar 2020 haben wir sehr viel über die Behandlung gelernt. Uns stehen inzwischen auch Medikamente zur Verfügung, mit denen wir die Erkrankung zumindest in der Frühphase behandeln können. Auch in der Intensivmedizin haben wir vieles gelernt. Aber es gilt definitiv, dass der wirksamste Schutz gegen eine schwer verlaufende Infektion die Impfung ist.

Wie stehen Sie zu einer Impfpflicht für alle bzw. bestimmte Berufsgruppen?

Meine Hoffnung ist, dass sich genügend Menschen freiwillig impfen lassen. Insbesondere solche, die mit Schutzbefohlenen mit erhöhtem Risiko arbeiten, wie beispielsweise eine Altenpflegerin. Eine Impfpflicht sollte ein Mittel zur Pandemiebewältigung sein, aber das letzte Mittel.

Welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen, um der „ernsten Notlage“ zu begegnen?

Um akut Herr der Lage zu werden, helfen nur Kontaktbeschränkungen. Entscheidend, gerade auch für den Winter sind die AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmasken – plus das Lüften. Da auch zweifach Geimpfte das Virus übertragen können, sollten größere Veranstaltungen nur mit 2Gplus stattfinden. Das bedeutet, dass auch Geimpfte und Genesene für den Zugang einen aktuellen negativen Test nachweisen müssen. Um ehrlich zu sein, glaube ich aber auch, dass wir um eine Absage vieler Veranstaltungen aufgrund der aktuellen Dramatik nicht mehr herumkommen werden. Und jeder von uns ist aufgefordert, private Kontakte verantwortungsvoll zu gestalten. Neben diesen Maßnahmen sollten wir maximal schnell die Impfungen und insbesondere die Drittimpfungen durchführen. Gegen die vorherrschende Deltavariante ist diese unerlässlich.