Hagen. Klavierzirkus? Nicht mit Kit Armstrong. Der junge Pianist holt mehr aus der Musik heraus als Effekte. So war Armstrongs Konzert in Hagen.
Wenn jemand das Klischee vom Tastentiger, der im Klavierzirkus durch brennende Reifen springt, bewusst nicht bedient, dann ist es der 29-Jährige Kit Armstrong, den Alfred Brendel 2008 als „größte musikalische Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin“ bezeichnete. Der Mathematiker und Pianist gehört zu den autonomsten Künstlern im Klassikbetrieb. Der Reihe Piano Solo in Olpe ist der weltweit gefeierte Solist seit 2010 in tiefer Freundschaft verbunden. Jetzt spielt er in Hagen.
Sinfoniekonzert in Hagen
Von dem internationalen Ruhm ist nichts zu spüren, als Kit Armstrong beim Sinfoniekonzert der Hagener Philharmoniker die Stadthallen-Bühne betritt. Vorher hatte er sich mit Schülern getroffen und die Kunstmuseen besucht. Das Ägyptische Konzert von Camille Saint-Saens steht auf dem Programm, ein selten gespieltes spätromantisches Trumm, höllisch schwer, unfassbar raffiniert.
Armstrong interpretiert es auswendig, ohne die kleinsten Virtuosen-Mätzchen. Er sitzt versunken am Flügel und spielt, in engem Kontakt mit GMD Joseph Trafton und den Musikern. Spielt, als gäbe es außer der Musik nichts auf der Welt, was wichtig wäre. Das Publikum ist zuerst fasziniert, dann hingerissen. Atemlos horcht es, was der junge Musiker am Flügel zu sagen hat. Kein Mucks, kein Huster im Saal.
Mehrfache Hochbegabung
Wie der Komponist Camille Saint-Saens, so ist auch Kit Armstrong eine Mehrfach-Hochbegabung. In den USA aufgewachsen, hat er ein abgeschlossenes Mathematikstudium, dazu Naturwissenschaften studiert, saß mit fünf Jahren am Klavier und komponierte, besuchte Grundschule und Highschool parallel und entspannt sich beim Jonglieren. Saint-Saens hat eine ähnliche Biographie. Mathematik, Archäologie, Astronomie, Geologie, Biologie, Botanik und Philosophie nannte er Zeit seines Lebens seine liebsten wissenschaftlichen Interessensgebiete, er komponierte bereits als Dreijähriger und gab mit Zehn sein Debüt als Pianist – Kit Armstrong trat mit Acht erstmals öffentlich auf.
Das Ägyptische Konzert, auf einer Nordafrikareise geschrieben und 1896 mit dem Komponisten am Klavier uraufgeführt, ist das Dokument einer optimistischen Ära. Durch die Erfindung der Dampfmaschine wird die Welt kleiner, Technikfaszination und die Sehnsucht nach fernen Orten treffen sich. Kit Armstrong begibt sich als Interpret selbst auf eine Expedition, er nähert sich dem Werk als ein Suchender, und so entfalten sich die exotischen Tonleitern und fernöstlichen Melodien ganz organisch und im weitgespannten Konzentrationsbogen aus dem Volkslied-Beginn.
Virtuose Kunststücke
Ja, Armstrong beherrscht alle die virtuosen Kunststücke, die Saint-Saens sich selbst abverlangte, die glitzernden Arabesken, die vollgriffigen Attacken. Aber er erschließt die Partitur nicht aus dem Spektakel, sondern aus den leisen Tönen, den fast schon impressionistischen Auflösungen der musikalischen Textur.
Das Finale macht Kit Armstrong schließlich zusammen mit GMD Joseph Trafton zur Maschinenmusik, die Kolben eines Dampfschiffs nehmen in Orchester und Klavier rhythmisch Schwung auf, Wellen, Sturm und glückliche Fahrt verbinden sich zu einem fernwehseligen Genregemälde. Als Zugabe gibt es für das entzückte Publikum die 2. Elegie von Saint-Saens, wieder als Beispiel überwältigender Musikalität in selbstvergessenem Spiel vorgetragen.
Farbklänge und Klangfarben
Die Philharmoniker gehen ohne Netz und doppelten Boden in das anspruchsvolle Programm. Zum Auftakt gibt es mit den „Midnight Sun Variations“ eine Farbklangfläche der jungen finnischen Komponistin Outi Tarkiainen, mit großem Schlagwerk inklusive Donnerblech und singender Säge. Zum Abschluss erklingt Nikolai Rimski-Korsakows „Scheherezade“, die Joseph Trafton ebenfalls als Klanggemälde anlegt, welches Fernweh in musikalischen Steigerungswellen spiegelt. Die Holzbläser haben solistisch viel zu tun und glänzen mit einem durch die Stimmen wandernden Volkslied-Motiv. Ich-Erzählerin aber ist die Solovioline von Konzertmeister Shotaro Kageyama, die das Stück mit ihren Melodien gliedert.
Der opulente Schluss gelingt Trafton und den Philharmonikern wie im Rausch. Ein groß aufgebautes Orchestertutti wird abrupt vom Violinsolo unterbrochen, und dann singt das Orchester das Volkslied immer leiser wie in weiter Ferne verklingend aus, während die Solovioline darüber im Flageolett klagt. Zauberhaft.