Olsberg. Ronja Pastoors würde nie laufen können, rechnen oder schreiben – sagten die Ärzte. Mittlerweile ist die 22-Jährige angehende Elektronikerin.

Die kleine Maschine, die vor Ronja Pastoors steht, sieht kompliziert aus. So groß wie zwei Schuhkartons nebeneinander, viel Technik, Metall und Elektronik. „Ach, das ist leicht“, sagt die 22-Jährige und fängt an zu erklären, wo die Druckluft herkommt, die den zylindrischen Gegenstand aufs Mini-Laufband schubst. Wie der Gegenstand dann dort auf seine Form hin überprüft, gestanzt und weiterbefördert wird. Das alles kann Ronja Pastoors bauen, programmieren, schalten. Die Frau, von der Mediziner sicher waren, dass sie nie würde laufen können, rechnen oder schreiben, ist angehende Elektronikerin. „Das“, sagt ihre Mutter Birgit Taprogge, „hätte ich niemals auch nur zu träumen gewagt.“

Als Frühchen geboren - mit nur 1000 Gramm

Ronjas Geschichte ist eine, die Mut macht, aber auch verzweifeln lässt. „Ronja ist abgestempelt worden“, sagt die Mama, „die Menschen haben sie in eine Schublade gesteckt und fertig. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich mich nicht so gekümmert hätte. Und wer weiß, wie viele solcher Fälle es gibt, in denen mehr möglich gewesen wäre.“ Sie sei bis heute nicht einmal wütend oder enttäuscht gewesen, dazu habe sie keine Zeit gehabt.

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„Ich habe mir in meinem Leben von vielen anhören müssen, dass ich Dinge nicht kann und niemals können werde“, sagt Ronja Pastoors. Sie sitzt in einem schmucklosen Schulungsraum des Berufsbildungswerkes Bigge. Draußen grünes Land, drinnen weiße Arbeitstische, Schalttafeln, Messgeräte. Über ihr an der Decke die neuen LED-Lampen, die über einen Rechner steuerbar sind. Hat unter anderem sie montiert. Die Frau, die im Rollstuhl sitzend ins Hochsauerland kam. Es ist der Ort, an dem sie aufblühte.

Ronja Pastoors wurde zehn Wochen zu früh geboren und wog nur 1000 Gramm. Sie kämpfte um ihr Leben, musste beatmet und künstlich ernährt werden. Ein schwerer Lungenschaden blieb, das Hirn prägte sich nicht aus, wie es sollte, die Sprachentwicklung war deswegen eingeschränkt. Sie leidet noch heute unter Muskelschwäche. Geistig eingeschränkt und zu 100 Prozent körperlich behindert – dieses Kind, werde niemals ein normales Leben führen, attestierten die Mediziner und Experten.

Logopädie? Sinnlos, sagt der Experte

Physiotherapie erhielt sie von Geburt an, später auch Ergotherapie. Ein Fachmann begutachtete Ronja, als sie sechs oder sieben war, um festzustellen, dass die Krankenkasse Logopädiesitzungen nicht bezahlen würde. Grund: zu geringe Aussichten auf Besserung. Die Mama zahlte trotz knapper Kasse aus eigener Tasche, sechs, sieben Jahre lang.

Im Berufsbildungswerk erhalten körperlich oder psychisch beeinträchtigte Menschen eine berufliche Erstausbildung, Fachpraktika genannt. Vor wenigen Wochen wurde Ronja Pastoors in ihrem Jahrgang als „beste Fachpraktikerin für Baugruppenmechanik“ in ganz NRW ausgezeichnet. Baugruppenmechanik orientiert sich am Ausbildungsberuf Mechatroniker. Mittlerweile absolviert sie die herkömmliche Ausbildung zur „Elektronikerin für Betriebstechnik“ am Berufskolleg in Arnsberg-Neheim. Mit guten Noten bislang. Im Januar ist sie fertig. Einen Job hat sie wohl schon in Aussicht.

Keine Unterstützung von Schule oder Arbeitsagentur

Als Kind sprach sie lange Zeit gar nicht, erst mit 12 oder 13 lernte sie lesen und schreiben. Sie besuchte als kleines Kind einen integrativen Kindergarten, danach die Förderschule. Noten gibt es dort nicht. Mit 17 war sie dort fertig. Und dann? Behindertenwerkstatt, das habe man ihr geraten, erinnert sich die Mama. Die Ronja, habe man ihr gesagt, werde keiner nehmen. „Wir haben keine Unterstützung erfahren, weder von der Schule, noch von der Arbeitsagentur oder sonstigen Beratern.“ Ronja aber wollte nicht in die Werkstatt. Sie wollte was lernen, wie die große Schwester, die Schreinerin gelernt hat. Birgit Taprogge durchpflügte das Internet, rief hier an und dort. Und in Olsberg.

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Michael Hamann ist ein Mann mit Brille, hoher Stirn und Zuversicht. „Als sie bei uns ankam“, erinnert sich Ronjas Ausbilder, „konnte sie gerade einmal Plus und Minus rechnen.“ Von dort aus war es ein weiter Weg hin zu den Gleichungen und Formeln, die für Elektrotechniker wichtig sind. „Wahnsinnige Fortschritte“ habe sie gemacht, sagt Hamann und tippt kurz etwas auf seinem Telefondisplay. „Handyverbot im Schulungsraum, Herr Hamann“, sagt Ronja. Beide schmunzeln. Herr Hamann ist einer der ersten außerhalb der Familie, die an Ronja glaubten, sagt die Mama.

Den Rollstuhl hat Ronja weggestellt

Herr Hamann ist im Schwimmverein und geht mit seinen Azubis jede Woche schwimmen, auch mit Ronja, die dadurch an Kraft zulegte. Ihren Rollstuhl braucht sie kaum noch, nur für Tagesausflüge, sagt sie. Die Azubis planen eine gemeinsame Wanderung am Ramsbecker Bergwerk: neun Kilometer. „Wenn es nicht mehr geht, bestelle ich mir ein Taxi.“ Sie lächelt ein glückliches, offenes Lächeln.

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„Es hat auch Scheißtage gegeben, weil ich dachte, dass ich das alles nie schaffe“, sagt Ronja. Die Experten hatten ihr geraten Produktdesign oder Schuhmacherin zu lernen. Sie wollte Elektrotechnik – und verzweifelte zu Beginn an den Zahlen und Formeln. Oft weinte sie, weil die anderen alles besser und schneller konnten als sie. Wie eigentlich immer. Frustrierend sei das gewesen. Sie gab nicht auf, lernte verbissen, machte Fortschritte.

Ronja spart alles für den Führerschein

Für die Auszeichnung als Jahrgangsbeste gab es 500 Euro. Die Mama sagte, dass Ronja damit ja mal shoppen gehen könnte. Doch die schüttelte den Kopf. Sie spart schon lange, für den Führerschein. Sie will unabhängig sein, bald allein wohnen, den Job antreten, von dem sie träumt. „Ich will mein Leben selber gestalten.“

Dass sie dazu beinahe niemals die Möglichkeit bekommen hätte, ringt ihr kaum mehr eine Regung ab. „Es ist nervig, weil die Leute, die dich beurteilen, keine Ahnung von dir haben. Aber soll ich mich ärgern?“, fragt sie, ohne eine Antwort zu wollen: „Dann müsste ich mich mein ganzes Leben ärgern.“