Hagen. Die Geschichte lehrt: Eine Impfpflicht ist wenig erfolgreich. Der Medizinhistoriker Malte Thießen verrät, was Impfskeptiker eher überzeugt.

Freiwilligkeit oder Pflicht – was lässt sich aus der Geschichte des Impfens lernen? Eine Antwort liefert der Historiker Professor Dr. Malte Thießen. Der Leiter des Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Münster beschäftigt sich seit elf Jahren mit der Geschichte des Impfens, insbesondere mit der Diskussion um die Impfpflicht. „Die Debatte war bereits 200 Jahre vor Corona eine höchst politische.“

Medizinhistoriker Dr. Malte Thießen erforscht seit elf Jahren die Geschichte des Impfens.
Medizinhistoriker Dr. Malte Thießen erforscht seit elf Jahren die Geschichte des Impfens. © LWL/Nolte | LWL/Nolte


Sie erforschen die Geschichte des Impfens – was fasziniert Sie daran?

Malte Thießen: Ein Archivunfall hat mich auf das Thema gebracht. 2010 wollte ich etwas zur Spanischen Grippe schreiben. Die Akten, die ich fand, waren dünn. Das Thema Impfen aber, das tauchte immer wieder auf. Es ging dabei nicht um den Piks, sondern um Ängste und Hoffnungen. Das hat mein Interesse geweckt. Bereits vor 200 Jahren entbrannte eine Grundsatzdebatte über die Frage, wem der eigene Körper gehört. Es geht immer um Selbstbestimmung, um Gewissensfreiheit des Einzelnen und somit darum, was der Staat darf? Kurzum: Beim Impfen geht es um das, was die Gesellschaft zusammenhält.

Seit wann gibt es Impfungen?

Impfungen sind in der Geschichte der Menschheit nicht so alt. Die erste war die Pockenimpfung 1796 in England. Ein Versuch, mehr nicht. Die erste Impfpflicht führte Bayern 1807 gegen die Pocken ein. In den 1930er Jahren gab es in Deutschland die erste Reihenimpfung gegen Diphtherie. Damals starben noch bis zu 100.000 Kinder daran. In den 1950er und 60er Jahre folgte die Polioimpfung. So richtig los ging es in der Bundesrepublik aber erst in den 1970er Jahren. Da hat man gegen 20 Infektionskrankheiten geimpft – von Masern bis zur Grippe und Antibiotika etabliert. Seinerzeit kam dieses Gefühl der Immunität gegen ansteckende Krankheiten auf. Das war neu. Für unsere Großeltern war es noch selbstverständlich, dass man an Tuberkulose sterben konnte.


Wie bewerten Sie als Historiker die Geschichte des Impfens?

Seuchen, Pandemien, das klingt nach finsterem Mittelalter. Dank der Impfprogramme hatten wir die Angst vor hochansteckenden Krankheitserregern verloren und hielten Immunität für selbstverständlich. Das Corona-Virus traf uns auch deshalb unvorbereitet. Letztlich aber sind Impfungen eine Erfolgsgeschichte: Pocken konnten so ausgerottet werden, bei der Polio und den Masern stehen wir kurz davor, wenn wir alle an einem Strang ziehen.

Sind Sie für eine Impfpflicht?

Ausrüstung eines Pestarztes im 17. Jahrhundert.
Ausrüstung eines Pestarztes im 17. Jahrhundert. © STADTMUSEUM BERLIN | Michael Setzpfandt

Da bin ich sehr skeptisch. Aus historischer Perspektive betrachtet, ist es ein stumpfes Schwert, weil es die Gegner mobilisiert. 1874 wird die erste und einzige Impfpflicht in ganz Deutschland gegen die Pocken eingeführt. Auf Anordnung eines patriarchalisch geführten Staates. Es wurden sehr schnell negative Erfahrungen gesammelt. Es musste kontrolliert und sanktioniert werden. Wer sich weigerte, dem drohten Geldstrafen oder Gefängnis. Die damaligen Polizisten schimpften über die Ressourcenverschwendung, weil sie dadurch andere Aufgaben vernachlässigen mussten. Man sah es als Personalverschwendung an. Nur 80 Prozent ließen sich trotz der drohenden Strafen impfen. Ein anderes Beispiel aus der Moderne: Die DDR führte die Impfpflicht in den 1950er Jahren ein und erreichte bei vielen Impfungen nur 70 Prozent der Bevölkerung. Sehr früh kamen die Verantwortlichen in westlichen Demokratien zur Einsicht, dass das Geld in niederschwelligen Angeboten besser angelegt ist. So wie in den 1930er Jahren, als man bei der Diphtherieimpfung auf Information setzte: Im Kino und auf Plakaten wurde dafür geworben. Mit Erfolg: Die Impfquote lag bei 92 bis 99 Prozent. Die Bilder eines erkrankten Kindes auf der Leinwand zeigten mehr Wirkung als der dröge Bericht eines Amtsarztes. Deutschland hat aus der Geschichte gelernt: Seither werden alle Impfungen nur noch freiwillig angeboten.

Es hat schon immer Verweigerer gegen Pandemie-Maßnahmen gegeben. Was hat sie aufgebracht?

Verweigerer von Pandemiemaßnahmen sind genauso alt wie Pandemien selbst. 1905/06 gab es 300.000 organisierte Gegner in Vereinen und Initiativen in Deutschland. Und das waren nur die organisierten, die sich gegen die Pockenimpfung wehrten. Die Motive der Impfgegner im Laufe der letzten 200 Jahre waren schon immer unterschiedlich, oft aus religiösen Gründen. Im 19. Jahrhundert hatte die Naturheilkunde viele Anhänger, die ihren Körper selbst reinhalten wollten. Heutzutage werden am Beispiel der Impfungen die Grundrechte der Menschen verhandelt – und diese Diskussion wird sehr emotional geführt. Die Unversehrtheit des Einzelnen steht dem Wohl der Allgemeinheit gegenüber. Es ist zu einer politischen Frage geworden. Die Debatte darüber gehört aber zu einer Demokratie.

Herdenimmunität gegen das Corona-Virus scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Haben wir versagt?

Im Gegenteil: Das 60 Prozent der Bevölkerung in so kurzer Zeit gegen das Corona-Virus geimpft worden sind, das grenzt an ein Wunder. Aus historischer Perspektive betrachtet, ist das eine beachtliche Leistung. Auch ich war über die eine oder andere politische Entscheidung genervt, aber insgesamt beurteile ich den Kampf gegen Covid-19 positiv.

Impfungen to go, vor Fast-Food-Läden, auf Flohmärkten – wirkt der Impfzirkus nicht lächerlich angesichts der ernsten Lage?

Impfzirkus, das Wort passt. Erst habe ich auch gelacht. Aber bei näherer Betrachtung erreicht man so Menschen, die sonst durch das Raster fallen würden. Bestimmte Bürger gewinnt man nur durch die Pommes-Bude, weil sie einfach zu bequem sind. Letztlich aber ist das Ergebnis wichtig und weniger, wie es zustande gekommen ist. Vom Impfzirkus haben wir alle etwas.