Hagen. Die Impfkampagne ist ins Stottern geraten. Experten erklären, wie sich die Impfmüdigkeit auf eine vierte Corona-Welle im Herbst auswirken könnte.
Am Flughafen Paderborn-Lippstadt (PAD) wird am Sonntag ein Impfbus stehen. Damit möglichst viele Menschen von dem Impf-Angebot Gebrauch machen, erhält jeder Teilnehmer Badeschlappen („PADiletten“) und einen Gutschein für die Gastronomie. Zudem wird ein 5000-Euro-Reisegutschein verlost.
Ein Beispiel aus der Region für die zunehmenden Versuche vielerorts, Impfstoff gegen das Corona-Virus an die Menschen zu bekommen. Denn die Impfkampagne in Deutschland ist trotz gestiegener Vakzin-Mengen mächtig ins Stottern geraten.
„Dass das Impfdrängeln so schnell in Impfmüdigkeit umschlägt, obwohl bisher erst 60 Prozent der Bevölkerung eine Impfdosis erhalten haben, hätte ich mir auch nicht vorstellen können“, sagt Prof. Ulf Dittmer, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen.
Knick in der Impfquote
60 Prozent: „Als 60 Prozent der Bundesbürger das erste Mal geimpft waren“, sagt Prof. Carsten Watzl, Immunologe an der TU Dortmund, „hat es einen Knick in der Impfquote gegeben“. „Erschreckend“ nennt er die Zahl der Erstimpfungen. Diese gehe Woche zu Woche um fast 30 Prozent zurück.
„Eine Herdenimmunität von mindestens 80 Prozent geimpften Bundesbürgern, um die Delta-Variante in Schach zu halten, werden wir mit diesem Impftempo nicht schaffen.“ Lediglich 70 Prozent im Herbst seien realistisch.
Impfstoff zu den Menschen bringen
Dass die Impfkampagne stockt, hat Watzl zufolge mehrere Gründe: „Einige Menschen haben den Sommer über andere Dinge zu tun – zum Beispiel Urlaub machen. Andere haben sich, warum auch immer, noch nicht groß Gedanken über eine Impfung gemacht.“
Man könnte diese Gruppen noch erreichen, indem man Impfstoff zu ihnen schaffe: „Ich denke da an Impfbusse“, sagt Watzl, der auch Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie ist, „in ihnen können Menschen ohne Voranmeldung das Vakzin erhalten.“
Falschmeldungen als Problem
Virologe Ulf Dittmer unterstützt diese Sicht: „Wir brauchen mehr dezentrale Impfungen, weil einige Menschen nicht bis zu den Impfzentren gehen und keinen Hausarzt haben. Wir brauchen noch mehr Aufklärung vor allem in ausländischen Communities. Hier ist die Impfquote teilweise sehr niedrig.“
Insbesondere dort machten Fake-Nachrichten die Runde, ergänzt Immunologe Watzl. Falschmeldungen, die schwer wieder einzufangen seien: „Hartnäckig halten sich Gerüchte, nach denen Impfungen etwas mit der Fruchtbarkeit von Frauen oder mit den Genen von Menschen machen, oder Krebs auslösen.“ In einigen Städten würden bereits Info-Videos in verschiedenen Sprachen verbreitet. „Das ist der richtige Weg“, sagt Watzl.
Gegen eine Impfpflicht
Eine klare Meinung hat der Dortmunder Professor auch zur Forderung nach einer Impfpflicht. Er lehnt sie ab: „Ich als Immunologe diskutiere lieber über den Sinn von Impfungen als über Freiheitsrechte. Es wäre fatal, wenn sich die Diskussion in diese Richtung verschiebt und Gegenwehr eine vernünftige Aufklärung verhindert.“
Gleichwohl findet er es legitim, wenn es bei hohen Inzidenzen im Herbst Einschränkungen für Nicht-Geimpfte gibt – „wenn wieder mehr Menschen in Innenräumen zusammenkommen“.
Testen ersetzt das Impfen nicht
Für nicht-Geimpfte müsse es in einigen Bereichen Beschränkungen des öffentlichen Lebens geben, findet auch Prof. Dittmer – „nicht als Bestrafung, sondern weil die Infektionsgefahr für die Personen selbst und andere zu hoch ist.“
Testen ersetze das Impfen nicht und sollte nicht weiter gleichgestellt werden: „Dafür ist die Fehlerquote bei den Antigentests zu hoch.“
Weitere Welle im Herbst
Man wisse, so der Essener Virologe weiter, dass sich Menschen mit einem geschwächten Immunsystem trotz vollständiger Impfung mit der Delta-Variante infizierten und sogar schwer erkranken und versterben könnten: „Wer beruflichen Kontakt mit solchen Menschen hat, muss geimpft sein. Sonst gefährdet er diese Personen erheblich. Wir müssen in diesen Bereichen eine Impfpflicht diskutieren.“
Dittmer ist sich sicher, dass wir im Herbst eine weitere Welle erleben werden. „Einige Millionen Deutsche werden nicht geimpft sein. Das reicht dem Virus, um sich wieder stark zu verbreiten.“
Weniger schwere Verläufe
Man werde aber deutlich weniger schwere Verläufe sehen als in den bisherigen drei Wellen: „Das verhindert die Impfung und die Verschiebung der Infektionen hin zu jüngeren Jahrgängen.“
Deutschland habe den Vorteil, ergänzt Immunologe Carsten Watzl, dass derzeit die Inzidenzen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie die Niederlande und Spanien noch sehr niedrig seien: „Die Gefahr bei einer Inzidenz von 100 ist nicht mehr so groß wie vor einem Jahr.“
Dennoch: Eine Aufhebung der Schutzmaßnahmen in diesem Herbst/Winter wäre in Watzls Augen fatal: „Wir müssen weiter vorsichtig sein. Es dürfen sich nicht zu viele Menschen infizieren, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden.“