Bayreuth. Die Klos im Festspielhaus sind geschlossen, Sitzkissen dürfen nicht mit rein und die Handtasche muss DinA4-Format haben. So geht Bayreuth 2021.

Richard Wagner ist ein Anwalt der starken Frauen. Elisabeth, Brünnhilde, Isolde, Senta, sie alle haben den männlichen Opernhelden des Komponisten eines voraus: Sie wissen, was Mitgefühl bedeutet. Daher ist es erstaunlich, dass in 145 Jahren Festspielgeschichte nie eine Frau auf dem Grünen Hügel den Taktstock führen durfte. Diese Tradition wird jetzt gebrochen. Mit Oksana Lyniv steht am Sonntag beim „Fliegenden Holländer“ die erste Dirigentin im „mythischen Abgrund“, dem berühmten Bayreuther Orchestergraben.

Coronabedingt bleibt der Saal halbvoll. Statt der Bayreuth-typischen Platzangstattacken im engen Gestühl gibt es nun Beinfreiheit. Vor den Ausdünstungen der Nachbarn, früher ein delikates Thema, schützen nun FFP2-Masken, die während der Vorstellung Pflicht sind. Die Wagnerianer erkennen sich untereinander am Bändchen um das Handgelenk. Dieses Instrument zur Einlasskontrolle wird bei Festivals wie Wacken eingesetzt, für eine Pilgerfahrt zum Gralstempel der Wagner-Oper schien es bisher zu profan. Nun müssen sich die Genesenen, Geimpften oder frisch getesteten Besucher mit Ausweis und Eintrittskarte in eigens errichteten Registrierungszentren anmelden.

Keine Schlange am Bratwurststand

Schlangen an den Eingängen, vor den Toiletten, an den Garderoben und am Bratwurststand will die Festspielleitung um jeden Preis vermeiden. Alle Klos im Gebäude sind geschlossen; Ersatz soll auf dem Außengelände bereitstehen - ebenso wie weitläufig verteilte Imbissbuden. Auch hier dürften die Wacken-erfahrenen Wagnerianer klar im Vorteil sein. Die anderen erklimmen die Lokalitäten in Abendkleid und Stöckelschuh.

Was noch schwieriger wiegt als die Frage, ob der Musikfreund zur Sicherheit eine Tena-Einlage in die Handtasche packen soll, welche exakt so groß sein darf wie ein DinA4-Blatt, ist das Problem mit den Kissen. Klappkissen sind beliebt auf den harten, aber akustikfreundlichen Holzsesseln, welche die Zuhörer in einen Sitzwinkel zwingen, der schon manche Bandscheibe gerissen hat. Angesichts der Coronagefahr wird es keinen Garderobenbetrieb geben und damit auch keinen Verleih von Polstern. Eigene Kissen mitzubringen, wird strikt untersagt.

Furcht vor Regen

Allerdings ist das Bayreuth-Publikum Kummer gewöhnt; es wird in dieser Spielzeit weniger aus Frust über verrückte Regieeinfälle die Augen zum Himmel drehen, sondern aus Furcht vor Regen. Drinnen dürfen sich die Leute nämlich keinesfalls aufhalten.

Der „Fliegende Holländer“ ist eine Choroper, „Tannhäuser“ und „Meistersinger“, die ebenfalls auf dem Spielplan stehen, erst recht. Die größte Herausforderung bildet coronatechnisch also der Festspielchor, der für viele Wagnerianer schon allein ein Grund ist, die weite Reise ins abgelegene Oberfranken auf sich zu nehmen. Die 151 Sängerinnen und Sänger dürfen nicht auf der Bühne singen. Eine Hälfte wird szenisch und stumm agieren. Die andere Hälfte singt im Chorsaal in Plexiglaseinzelkabinen und wird ins Parkett übertragen.

Der Charme des einzigen deutschen Musikereignisses von internationalem Rang besteht in der Tatsache, dass an Wagners heiligem Ort zwar Künstler von Weltgeltung aktiv sind, dass diese aber sehr oft dort erst entdeckt werden – und dass Bayreuth-Stars nicht zwingend Stars im Sinne der bunten Magazine sein müssen. Georg Zeppenfeld aus Attendorn im Sauerland galt in der Fachwelt längst als bester Bass seiner Generation, bevor sein Name wegen Bayreuth einem breiten Publikum ein Begriff wurde. Tenöre haben es da naturgemäß leichter. Klaus Florian Vogt, einer der herausragenden Wagner-Interpreten der Gegenwart, hat seine Karriere auf dem Grünen Hügel begonnen. Er prägt die Richard-Wagner-Festspiele stimmlich wie kein zweiter Sänger. Als Senta gibt die litauische Sopranistin Asmik Grigorian ihr mit Spannung erwartetes Debüt.

Was macht Christian Thielemann?

Die Wagnerianer rätseln über die Zukunft von Maestro Christian Thielemann. Schon als junger Kapellmeister bewies Thielemann ein großes Gespür für Wagners Klangwelten, seit 2000 lässt er mit seinen Interpretationen in Bayreuth aufhorchen. Fünf Jahre lang war Thielemann Musikdirektor der Festspiele. Aber immer wieder machten Gerüchte die Runde, er wolle den Mitdirigenten zu sehr hineinreden, die ja ebenfalls Großkaliber sind. In diesem Jahr leitet Thielemann nur den konzertanten „Parsifal“.

Schulkonzerte in Bad Berleburg

Dafür läuft sich der finnische Dirigent Pietari Inkinen in der halbszenischen „Walküre“ für den „Ring“ warm, der wegen Corona von 2020 auf 2022 verschoben wurde. Mit 41 Jahren bekleidet Inkinen bereits mehrere Ämter in Personalunion: Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie sowie Chefdirigent des Japan Philharmonic Orchestra, der Prager Symphoniker und der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Seine Laufbahn ist ohne Störungen in den Klassik-Himmel gestiegen.

Als Frau musste Oksana Lyniv dagegen erst die Ochsentour hinter sich bringen. In Interviews hat die 43-jährige Ukrainerin mehrfach betont, dass die Agenturen immer noch weder Zeit noch Mühe in weibliche Dirigenten investieren wollen. Oksana Lyniv konnte jedenfalls im Jahr 2009 mit der Philharmonie Südwestfalen schon zahlreiche Kinder bei zwei Schulkonzerten in Bad Berleburg in Wittgenstein für Klassik begeistert. Und so beweist sich angesichts ihrer „Holländer“-Premiere am Sonntag die alte Musikerweisheit: Wer Schulkonzerte kann, der kann alles.