Hagen. Nach trostlosen Monaten in den Pflegeheimen macht die Impfung wieder Summen, Bingo und Sitztanz möglich. Aber nicht alles ist so, wie es war.

Johannes Stremming lacht über das ganze Gesicht. Mit beachtlichem Schwung hebt er beide Arme, lässt die bunten Tücher in seinen Händen fliegen. Gleichzeitig presst er die Lippen aufeinander und bringt sie zum Vibrieren. „Am Brunnen vor dem Tore“ summt es vierstimmig durch die Cafeteria des Pflegeheims Haus St. Martin in Hagen. Maria Herrmann, Elisabeth Schrandt und Renate Klüe, zusammen zählen sie 358 Lebensjahre, summen und brummen ebenfalls. Gemeinsam.

Das Leben stand still

Endlich wieder: gemeinsam. Leben. Stimmen. Musik. Die Bewohner und Mitarbeiter in Pflegeheimen waren die ersten, die vor Wochen die Impfung gegen das Coronavirus erhielten. Viele von ihnen haben längst den vollständigen Schutz. Deswegen kehrt das Leben in Form von Summen, Bingo und Sitztanz zurück in die Heime der Republik. Nach Monaten des Verzichts.

„Ich brauche Aufgaben“, hat der Herr Stremming, 91 Jahre alt, oft gesagt. An Tagen, an denen es ein eher ruhiges Leben war, es weniger Stimmen und keine Musik gab. In diesem langen Corona-Jahr, in dem mehr Da als Sein war. Monatelang kein Besuch. Abwechslung brachten Balkonkonzerte und Balkonfitness, aber eben alles auf Distanz. Die Einrichtung ist bis heute streng überwacht, nur mit negativem Testergebnis ist der Zutritt erlaubt.

Hier, wie in allen anderen Pflegeeinrichtungen, hatte erzwungene Isolation Gesichter. Zumeist vom Leben gezeichnete. „Wir haben schon so viel geschafft, das schaffen wir auch noch“, hätten die Bewohner ihr oft gesagt, irgendwie ergeben, wissend, dass sie nichts ändern können, erinnert sich Anne Lepis (58). Die Leiterin des Sozialen Dienstes in der Caritas-Einrichtung mit ihren 106 Plätzen hat – trotz vieler Berufsjahre als Diplom-Pädagogin – eine vergleichbare Situation nie erlebt. „Ich habe gelitten wie ein Hund“, meint sie.

Radio Regenbogen entstand in dieser Zeit, ein hauseigenes Programm zum Hören und Mitmachen. Videotelefonie wurde angeboten, der Erfolg war überschaubar. „Der Kontakt war stark eingeschränkt, die Bewohner waren viel in ihren Zimmern, es konnten nur Einzelangebote stattfinden.“

Warten – aber auf was?

Denn dort verbrachten sie einen Großteil ihrer Zeit. Die einen stoisch, die anderen genügsam, den Tagesablauf geduldig ertragend, abwartend. Aber auf was? Kegeln, Gedächtnistraining, Witze erzählen, Sprichwörter ergänzen? Fiel alles aus. Das Wochenprogramm des Sozialen Dienstes bekam ein völlig anderes Gesicht. Die wohnbereichsübergreifenden Gruppen lagen brach, ein Jahr lang. Angebote fanden in den Wohnbereichen statt.

Der Soziale Dienst bekam ein neues Aufgabengebiet: Plötzlich ging es mehr um Organisation und Umsetzung neuer gesetzlicher ­Vorgaben, Besuche mussten geregelt und organisiert werden, auf die Einhaltung der Hygienevorschriften musste geachtet werden. „Wir müssen jetzt bei Null wieder anfangen“, sagen Anne Lepis und ihre Kollegin Elsa Fehr (65) mit Blick auf ihre Gruppenangebote.

Vieles haben die Bewohner verdrängt, jeder Tag ist ein neues Erlebnis. Was gestern war? Vergessen. Das Leben im Heim, der Alltag der Bewohner habe sich verändert. „Vor Corona hatten wir große Runden, da waren auch mal 20 Bewohner dabei“, erzählt Elsa Fehr. Das, so sagt die Altentherapeutin, wolle man nun seltener anbieten. Angesagt sind jetzt kleine Runden. „Die Bewohner haben sich auf ihren Zimmern und in ihren Wohnbereichen eingerichtet“, hat Anne Lepis beobachtet. Sie reagieret darauf und trifft sich nun nur noch mit fünf, sechs Bewohnern. „Der Kontakt ist so intensiver, jeder hat mehr davon“, glaubt die Fachfrau.

Neue Inhalte

Auch die Inhalte wandeln sich. Die Zeit der großen Feste? Vorbei, glaubt Anne Lepis, überschaubarere Einheiten seien angesagt. Ein anderes Beispiel: „Aus Singen wird Summen“. Damit keine Aerosole durch den Raum fliegen. Eine Herausforderung. „Menschen mit dementiellen Veränderungen erinnern sich schnell nicht mehr daran, dass sie nicht singen sollen, sondern nur summen“, sagt Anne Lepis. Also weisen sie immer wieder darauf hin. Summen stärke zudem den Mundbereich, die Resonanz belebe die Muskulatur.

Musik spielt eine große Rolle in der Betreuung der betagten Bewohner. „Ich komme so gerne“, sagt Maria Herrmann. Die 87-Jährige ist mit Freude bei der Sache, endlich ist wieder wenigstens ein bisschen was zu tun. „Und ich singe doch so gerne“, sagt sie. Dass sie nun summen soll, gut sie macht auch das. „Wir sind so glücklich, dass wir wieder mit den Bewohnern zusammenkommen können“, sagt Elsa Fehr.

Und auch die Bewohner sind glücklich, auf alle Fälle im Moment des Zusammentreffens. Jedes Mal wieder. Endlich.

<<< BLICK IN DIE REGION >>>

Mit den Impfungen ist das soziale Miteinander auch in andere Alten-und Pflegeheime in der Region zurückgekehrt. Auf Feierlichkeiten oder größere Treffen mit Familien und Freunden wird zwar in vielen Einrichtungen weiterhin verzichtet, aber es gibt viel Programm. Eine Auswahl.

„Diese Aktionen sind für unsere Bewohner sehr wichtig“, sagt Markus Hoffmann von der Katholischen Frauengemeinschaft Altersselbsthilfe e.V. in Schmallenberg. Dort hatte es zum Ende des vergangenen Jahres ein erhöhtes Infektionsgeschehen gegeben, zehn Menschen verloren in Folge der Infektion mit Covid-19 ihr Leben. Seit der Impfung aller Bewohner und Mitarbeiter hat sich die Lage entspannt. Vorlesungen oder Liederabende gehören seitdem wieder zum Programm.

Derweil möchte Hoffmann mit dem Gerücht aufräumen, dass die Bewohner in Pflege- und Altenheimen monatelang isoliert wurden. „Das war nur zu Höchstzeiten des Infektionsgeschehens in unserem Haus der Fall.“

Etwas differenzierter ist die Lage in den Einrichtungen der AWO in Südwestfalen. „In unseren Seniorenzentren beobachten wir zurzeit, dass die Infektionen stark sinken. Mit Sorgen blicken wir jedoch auf die steigenden Infektionszahlen außerhalb der Einrichtungen und sind deshalb sehr vorsichtig“, so AWO-Pressesprecherin Kathrin Mormann. Im ersten Schritt zurück zur Normalität bietet die AWO wieder vermehrt interne Veranstaltungen an, die Personal und Bewohner gemeinsam gestalten. Angebote von externen Künstlern in den Einrichtungen sind nur mit negativem Test möglich.

In der Cramerschen Fabrik in Menden hingegen gibt es die Hoffnung auf einen lebendigen Sommer. „Wir hoffen darauf, unser Sommerfest in diesem Jahr wieder durchführen zu können. Im Idealfall dann auch wieder mit externen Besuchern“, sagt Einrichtungsleiter Jörg Rauhut.