Hagen. Das Verwaltungsgericht kippt die Ausgangssperre im Märkischen Kreis. Was nun gilt, was das für andere Regionen heißt und was ein Experte sagt.

Kaum beschlossen, ist die Ausgangssperre auch schon wieder gekippt: Das Verwaltungsgericht in Arnsberg hat am Dienstagmittag der Klage eines Mendener Anwalts gegen die seit Freitag geltende Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr im Märkischen Kreis stattgegeben. Es bestünden „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Regelung“, hieß es vom Gericht.

Was nun werden wird? Unklar. Klar ist aber: Die Ausgangssperre und das Urteil haben Folgen und bewegen die Menschen. Wir haben nachgefragt. Das sagt...

… das Verwaltungsgericht

Die Richter urteilten, dass Ausgangssperren nur zulässig seien, wenn ansonsten „eine wirksame Eindämmung des Infektionsgeschehens ,erheblich’ gefährdet“ sei. Das allerdings habe der Märkische Kreis in seiner Allgemeinverfügung „nicht hinreichend dargelegt“. Zudem sei die Annahme des Kreises, die nächtliche Ausgangsbeschränkung erleichtere Kontrollen, „angesichts der Vielzahl und Reichweite der in der Verfügung geregelten Ausnahmen zweifelhaft“.

… der Märkische Kreis

Der Krisenstab tagte bis zum Abend – und legt Beschwerde gegen das Urteil ein. Das Oberverwaltungsgericht in Münster wird entscheiden müssen. Die Ausgangssperre bleibt vorerst in Kraft. Der Märkische Kreis habe „in enger, auch juristischer Abstimmung mit dem Land gezielte Schutzmaßnahmen“ erlassen, die Allgemeinverfügung sei „mit dem NRW-Gesundheitsministerium abgestimmt“ gewesen.

… das NRW-Gesundheitsministerium

Man befinde sich im Austausch mit der betroffenen Kommune, teilt das Landesgesundheitsministerium am Nachmittag auf Nachfrage dieser Zeitung mit. „Grundsätzlich hält das Ministerium Ausgangsbeschränkungen für sinnvoll, sofern vorhergehende Maßnahmen das Infektionsgeschehen nicht ausreichend eindämmen konnten.“ Was das genau heißt, macht Marco ­Voge, Landrat des Märkischen Kreises, am Abend deutlich: „Das Thema hat aktuell eine große landes- und bundespolitische Tragweite. Darum stehen wir im engen Austausch mit dem Ministerium, das uns ausdrücklich dazu aufgefordert und darin bestärkt hat, in dieser Fragestellung eine Entscheidung der nächsthöheren Instanz herbeizuführen.“

... der Kreis Siegen-Wittgenstein

Nicht nur im Märkischen Kreis ist eine Ausgangssperre verhängt worden, sondern auch im Kreis Siegen-Wittgenstein (seit Samstag). Diese wurde aber am Mittwoch, 14. April, vom Verwaltungsgericht Arnsberg wieder gekippt. Das Gericht hielt die Ausgangssperre nicht für rechtmäßig. Ob der Beschluss rechtskräftig wird, ist noch offen. Landrat Andreas Müller überlege, ob er – wie bereits sein Kollege im Märkischen Kreis – gegen die Entscheidung Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht einlege.


… die Stadt Hagen

In der kreisfreien Stadt Hagen gilt die Ausgangssperre seit Dienstag dem 13. April. Klagen aus den Gebieten sind beim Verwaltungsgericht anhängig, über die in den kommenden Tagen entschieden werden soll. Werden diese also auch gekippt?Nicht unbedingt. Hagen jedenfalls bleibt gelassen. Die Ausgangssperre sei anders konzipiert, so Stadtsprecherin Clara Treude: „Das Hauptaugenmerk liegt bei uns darauf, mit der Ausgangssperre private Zusammenkünfte weiter zu beschränken.“ Vom Kreis Siegen-Wittgenstein lag am Abend noch keine Einschätzung der Lage vor.

… der Rechts-Experte

Verwaltungsrechts-Experte Prof. Jörg Ennuschat von der Ruhr-Universität Bochum hat Sympathien für die Entscheidung aus Arnsberg. „Eine Ausgangssperre ist ein äußerst scharfes Schwert. In den meisten Konstellationen, in denen die Ausgangssperre die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger konkret beschränkt, gibt es keinen nennenswerten Nutzen für die Pandemiebekämpfung. Freiheitsverlust und der Gewinn für die Epidemiebekämpfung stehen deshalb in keinem angemessenen Verhältnis“, sagt er.

Warum aber hat es andernorts Ausgangssperren trotz Klagen gegeben? Wichtig sei, „dass die Behörde ihre Sicht der Gefahrenlage nachvollziehbar darlegt: Wo sieht sie die Infektionsgefahren? Wirklich draußen? Wo genau draußen? Darauf zugeschnitten müsste die Ausgangssperre sein“, erklärt Ennuschat. „Wenn es darum geht, dass die privaten Kontakte in Innenräumen nur schwer zu kontrollieren sind, eine Ausgangssperre aber leichter zu kontrollieren ist, gilt: Verwaltungsvereinfachung rechtfertigt keine Eingriffe in unsere Freiheit.“

Der Experte wundert sich ganz allgemein über das Vorgehen in Deutschland, das einem physischen Ansatz mit Abstandsregeln folge. Konsequenz: massive Eingriffe in viele Grundrechte, kein Gottesdienst, kein Sport, kein Kino. Das zweite Modell verfolge einen digitalen Ansatz. „Der Staat verknüpft die Daten, die bei den Krankenversicherungen, den Telekommunikationsunternehmen, den Fluggesellschaften vorhanden sind, um Menschen mit gesteigertem Risiko, infiziert zu sein, schnell herauszufiltern und dann zu isolieren.“ Auch dies sind: Eingriffe in Grundrechte, in diesem Falle aber in das eher virtuelle Grundrecht auf Datenschutz – und nicht in körperlich spürbare.

„Jede Gesellschaft muss für sich entscheiden, welche Grundrechte ihr wichtiger sind. Bei uns scheint der Datenschutz das Obergrundrecht zu sein“, sagt Ennuschat und verweist auf Taiwan, wo kein Geschäft habe schließen müssen und elf Todesopfer zu beklagen ­seien: „Stark zugespitzt formuliert könnte man fragen: Wie viele ­Todesopfer und wie viel Freiheitsverlust ist uns der Datenschutz wert?“