Lüdenscheid. Nach 21 Uhr gilt im Märkischen Kreis seit Freitag eine Ausgangssperre. Reportage aus Lüdenscheid, größte Stadt und Corona-Hotspot des Kreises.

Es ist so leise, dass man den Schneeresten beim schmelzen zuhören kann. Eine Stimme durchbricht die Stille. Die Ordnungsamts-Mitarbeiterin ist freundlich im Ton, aber bestimmt in der Sache. „Guten Abend, wir haben hier in Lüdenscheid seit heute 21 Uhr eine Ausgangssperre“, sagt sie direkt zu dem Mann, der durch die Innenstadt schleicht. Eine Kollegin ist an ihrer Seite, hinter ihnen steht ein Mann vom Sicherheitsdienst. Man weiß ja nie, wie die Menschen reagieren, wenn sie Strafe zahlen sollen, weil sie an einem Freitagabend nicht zu Hause sind. Der Schleicher ist auf dem Weg nach Hause, von der Arbeit, in Radevormwald. „Ist gut, schönen Abend.“

Märkischer Kreis: Inzidenzwerte seit Wochen hoch

Ausgangssperren sind das letzte Mittel der Politik, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Am Donnerstag wurde sie für den Märkischen Kreis beschlossen. Seit Wochen bekommt der Kreis seine Inzidenzwerte nicht in den Griff und gilt als Hotspot in NRW. 186 Infektionen sind es am Freitag pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen im Kreis. Lüdenscheid treibt diesen Wert mit einer schwindelerregenden Inzidenz von 365 maßgeblich in die Höhe. Der NRW-Schnitt liegt knapp über 100. Deswegen: Ausgangssperre. Ortsbesuch in der mit 70.000 Einwohnern zweitgrößten Stadt des Kreises zu historischer Stunde.

Als es 21 Uhr schlägt, fegt der Mann, dem der Kiosk gehört, noch die paar Meter Pflaster vor seinem Laden. „Katastrophe“, sagt er. Bis 23 Uhr hätte er sonst auf, ein bisschen was an Kundschaft kommt in den zwei Stunden normalerweise noch rein. Auch das bricht nun weg, Miete hat er noch nicht gezahlt diesen Monat, kein Geld da, sagt er. Die Borsten schrubben über den Boden, aus dem Geräusch ist die Wut herauszuhören.

Einen halben Lockdown, ein ganzes Jahr lang

Der Besenstiel entzweit an einer Stelle, an der er schon häufiger gebrochen sein muss. „Warum haben wir nicht schon vor langem einmal alles für einige Wochen richtig heruntergefahren“, fragt der Mann. Stattdessen mache die Politik einen halben Lockdown, ein ganzes Jahr lang. Er zeigt auf die Geschäfte gegenüber, links, rechts. „Alle am Ende.“ Er auch bald, sagt er.

Ein paar Meter weiter kreuzen sich zwei Wege, man vier Gassen entlang schauen. Geradeaus leuchten Baustellenlichter, links verschwinden zwei junge Männer im Schatten des Rathauses, rechts weist das elektrische Hinweisschild aus, wann der nächste Bus fährt. Nur für wen?

Offene Fragen beim Bußgeld nach Verstößen

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Die Polizei kommt um kurz nach 21 Uhr das erste Mal im Einsatzwagen angerollt. Die Beamten kontrollieren einen jungen Mann, der bis gerade eben in einem Burger-Laden gearbeitet hat. Auch er darf also unterwegs sein, genauso wie zum Beispiel Hundebesitzer mit ihren Tieren und sogar Jogger. Allen anderen drohen Anzeige und Bußgeld. Wie hoch das ist? Die Coronaschutzverordnung besage 500 Euro, lässt der Kreis wissen, aber die Kommunen würden selbst entscheiden. Die aber hätten gern eine einheitliche Lösung, damit dasselbe Delikt nicht in Lüdenscheid mehr als in Menden, Iserlohn oder Plettenberg kostet. „Ausgangssperren sind für uns alle neu, wir versuchen das erst einmal kommunikativ zu lösen“, sagt ein Beamter. Sie fahren weiter.

Ein paar Menschen sind schon noch unterwegs. Um kurz vor 21 Uhr hastet ein junger Mann mit Wollmütze und dunklem Bart zu seinem Bruder. Nachher muss er wieder zurück. „Gilt die Ausgangssperre auch, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin“, fragt er. Ja. „Kann ich denn mit dem Taxi fahren?“ Ja, schon, kostet aber im Falle eines Falles auch.

Kontrolle ist Sache der Behörden

Drei Wagen haben sich am Taxistand versammelt und warten … auf was eigentlich? „Ich wollte mal gucken, man weiß ja nie. Aber es ist keiner da.“ Ein paar Fahrten seien nachts zuletzt noch reingekommen, immer so gegen 1 oder 2 Uhr. Nichts Wildes, aber immerhin ein bisschen was. „Wenn mich einer anruft, dann fahre ich auch.“ Kontrolle ist Sache der Behörden.

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Ein Mann geht vorbei, er trägt Wildlederschuhe und einen dünnen Schal unter der Winterjacke. „Das ist doch Schwachsinn“, sagt er, als ihm jemand sagt, dass in Lüdenscheid Ausgangssperre herrscht. Der Wildlederne ist von einem dienstlichen Termin auf dem Weg nach Hause nach Olpe. Von der Autobahn fuhr er ab, um sich etwas zu essen zu besorgen. „Ne Pizza, oder so“, sagt er. Er geht die Stadt auf und ab, findet aber nur eine Pizzeria, die ausliefert. „In Großstädten könnte eine Ausgangssperre sinnvoll sein, aber hier sind wir auf dem Land“, sagt er und fragt: „Was soll das bringen?“

So wirkten die Ausgangssperren in Solingen und dem Kreis Lippe

Antworten kann man in der kreisfreien Stadt Solingen suchen, die die Ausgangssperre vom 16. Dezember bis 10. Januar - mit gelockerten Regelungen über Weihnachten und Silvester - aufrecht erhielt. Die Inzidenz vorher: fast 300. Die Bürger hätten sich „im wesentlichen an die Beschränkung gehalten“, heißt es von der Stadt auf Nachfrage dieser Redaktion, „großer Unmut hat sich nicht geäußert“, auch habe es keine nennenswerten Bußgeldverfahren gegeben. „Wir schätzen, dass die Ausgangsbeschränkung im Zusammenhang mit den anderen Maßnahmen schon dazu beigetragen hat, die Infektionszahlen zu senken“, resümiert die Stadt. 140 betrug der Wert Mitte Januar. Auch der Kreis Lippe halbierte seine Ansteckungsrate in diesem Zeitraum u.a. mit einer Ausgangssperre.

Zurück zu beherrschbaren Zahlen – das ist auch der Wunsch im Märkischen Kreis und in Siegen-Wittgenstein, wo die Ausgangssperre ebenfalls kommen wird: Sie gilt ab Samstag, 10. April bis mindestens 25. April zwischen 21 Uhr und 5 Uhr. Im Märkischen Kreis ist sie nur bis zum 18. April vorgesehen. Aber vielleicht dauert sie noch kürzer: Ein Mendener Anwalt geht juristisch gegen die Ausgangssperre vor. Mit einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg wird zu Wochenbeginn gerechnet.