Ein letzter Blick auf das tote Kind. Wer würde bei dieser Szene nicht von Mitleid ergriffen. Sie ist Gegenstand von Vesperbildern in Südwestfalen
Die Mutter beweint ihren toten Sohn. Eine Urkatastrophe, das Schlimmste schlechthin - und doch so häufig. Die Szene berührt uns tief im Herzen. Das ist gewollt. Denn das Mitleiden ist eine Erfindung des Christentums. Nächstenliebe und Barmherzigkeit zählen in der Antike noch zu den unerwünschten Gefühlen. Welche Situation könnte mehr zum Mitleid, zur Compassio, bewegen, als die Passion Christi? Aus diesem Gedanken entsteht im 14. Jahrhundert eine neue Kunstform: das Vesperbild. Es zeigt Maria mit Jesus nach der Kreuzigung und dient der stillen Andacht.
Man nennt solche Szenen auch Pietà nach dem italienischen domina nostra de pietate (unsere Herrin vom Mitleid). Andacht und Mitleid sind so eng miteinander verbunden, dass Frömmigkeit und Mitleid im Mittelalter mit dem gleichen Begriff bezeichnet werden. In den Kirchen Südwestfalens finden sich herausragende Vesperbilder, die das Diözesanmuseum Paderborn wie kostbare Schätze hegt und pflegt und in der neugestalteten Dauerausstellung besonders präsentiert.
Volksfrömmigkeit und Hochkultur
Die Muttergottes thront auf ihrem Sockel. Ihr Gesicht ist dem Betrachter zugewandt, doch eine unmerkliche Bewegung durchläuft ihre Gestalt. Sie dreht sich leicht zu Christus hin. Das Vesperbild aus St. Pankratius Sundern-Stockum entstand um 1400 im Südlichen Westfalen und gehört zu den frühesten in Westfalen erhaltenen Bildwerken, welche die Mutter Maria mit dem toten Sohn auf dem Schoß thematisieren. Die Szene ist zeitlich nach der Kreuzabnahme einzuordnen, sie wird in den Evangelien nicht geschildert, wohl aber in mehreren apokryphen Schriften. Zudem handelt es sich um die Verbildlichung eines Hauptthemas der Mystik. Die Betenden stellen sich die Mutter Jesu in ihrem tiefsten Schmerz vor. Das Bildwerk dient dabei als Ausgangspunkt der stillen Andacht. Das Motiv der Schmerzensmutter verbindet Volksfrömmigkeit mit Hochkultur.
Der unbekannte Meister der Stockumer Pietà verbindet seine Darstellung mit ausgeklügelter theologischer Zeichenhaftigkeit. Marias Schleier zum Beispiel weist die Gottesmutter als verheiratete Frau aus, die ihren unbedeckten Kopf nicht in der Öffentlichkeit zeigt. Ihr Manteltuch hingegen schafft nicht nur mit seiner Stofffülle einen Raum zwischen Himmel und Erde, das helle Tuch mit den goldenen Säumen verbindet die Mutter auch ein letztes Mal wie eine Nabelschnur mit dem Sohn. Das Motiv spielt auf die Schleierszene der Kreuzigung an, in der Maria die schmachvolle Blöße Jesu bedeckt.
Streublümchen auf dem Kleid der Madonna
Jedes Detail der schönen Figurengruppe hat eine Bedeutung. Sie ist ein geschnitztes Gebet. Um 1400, als die bemalte Plastik entsteht, hat sich Himmelblau bereits gegenüber dem früheren Rot als die Farbe des Madonnenkleides durchgesetzt. Das Stockumer Gewand ist mit goldenen fünfblättrigen Streublümchen bedeckt, die zusammen mit dem Blau eine Anmutung des Sternenzeltes bewirken, aber auch auf Maria als „rosa mystica“, als geheimnisvolle Rose, anspielen, wie sie in der Lauretanischen Litanei aus dem 12. Jahrhundert beschrieben wird. „Gleichzeitig schwingt in der Fünfgliedrigkeit der Blumen ein symbolischer Bezug auf die fünf Wunden Christi mit“, weiß die Kunsthistorikerin Ursula Pütz vom Diözesanmuseum. Die Mutter blickt ihren Sohn ein letztes Mal an. Ihre Züge sind in Trauer erstarrt, aber gefasst. Der Bildhauer zeigt die bittere Realität des Todes. „Freudvolle Vesperbilder sind sehr selten“, konstatiert Dr. Holger Kempkens, der neue Leiter des Diözesanmuseums Paderborn.
Eine dieser Raritäten befindet sich als Leihgabe aus St. Jodokus Lennestadt-Saalhausen ebenfalls im Diözesanmuseum. Die Skulptur stammt aus dem 1. Viertel des 15. Jahrhunderts, ist also gut 100 Jahre jünger als die Schmerzensmutter aus Stockum. Maria hat keinen Blickkontakt mit ihrem toten Sohn. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Die Muttergottes schaut so versonnen und versunken, als wüsste sie um ein großes Geheimnis, das der Betrachter noch nicht kennt. Die Kreuzigung ist nicht das Ende.
Restauratoren legen sieben Farbfassungen frei
Das Gnadenbild aus Stockum ist von Anfang an auf eine Bemalung konzipiert. Sieben Farbfassungen haben die Restauratoren des Diözesanmuseums freigelegt und konnten so den Urzustand wieder herstellen, so wie er jetzt zu sehen ist. Dem frommen Betrachter springen natürlich die Blutstropfen ins Auge, die den gemarterten Leib Christi überziehen. Diese Blutstropfen sind nicht nur gemalt, sondern auch plastisch aufgelegt. Sie erinnern an die rheinischen Crucifixi dolorosi des 14. Jahrhunderts, die den Gekreuzigten als Leidenden darstellen; teilweise so eindringlich, dass die Gläubigen in Angst und Schrecken versetzt werden. Warum gerade in den Kirchen Südwestfalens ein solcher Reichtum an Vesperbildern herrscht, bleibt ein Rätsel.
Die Kunsthistorikerin Ursula Pütz vermutet eine bislang nicht identifizierte südwestfälische oder sauerländische Holzschnitzwerkstatt um 1500, „der eine ganze Reihe ähnlicher Bildwerke zugeschrieben werden kann“. Was die Vesperbilder aus dem Sauerland gemeinsam haben, ist ihre Realitätsnähe. Der menschliche Schmerz, der aus dem Bild spricht, korrespondiert zur Lebenserfahrung der Betrachter. Die Passionsfrömmigkeit findet ja nicht ohne Grund großen Widerhall in der breiten Bevölkerung. Der große „Aufschwung“ der Vesperbilder im 14. Jahrhundert ist zeitlich an das Wüten der Pest geknüpft.
Kriege und Seuchen rauben den Müttern die Söhne
Immer wieder sorgen Kriege und Seuchen dafür, dass Mütter ihre Söhne betrauern müssen. Nach dem Ersten Weltkrieg zum Beispiel kommt es zu einer Fülle von Vesperbild-Stiftungen in den Dorf- und Stadtteilkirchen, sie werden von den Frauenvereinen finanziert, die sich im Leiden Marias Trost für ihren eigenen Kummer erhoffen. Die Schmerzensmutter, so viel ist gewiss, ist eine Kunstgattung, mit der sich über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart Frauen identifizieren können.