Hallenberg/München. „Das muss aufhören in der Kirche.“ Priester Wolfgang Rothe spricht über ein Tabuthema: Auch Geistliche können Opfer von Missbrauch werden.

Dr. Dr. Wolfgang Friedrich Rothe will nicht länger schweigen. „Ich lasse mich nicht mehr bedrohen. Das muss aufhören in der Kirche“, sagt der 53-jährige Priester. Der gebürtige Hallenberger wirft seinem früheren Bischof Klaus Küng versuchte sexuelle Übergriffe vor und macht damit das Dunkelfeld der sexuellen Gewalt gegenüber Priestern öffentlich. Es steht Aussage gegen Aussage. Das Bistum St. Pölten bezeichnet die Vorwürfe gegenüber unserer Zeitung als haltlos. Rothe hat Post aus St. Pölten erhalten, in der man ihm disziplinarische Schritte androht, wenn er weiter mit den Medien redet.

Rothes Anklage bringt ein Tabuthema in die Öffentlichkeit: Gewalt gegen Priester durch Vorgesetzte. Erfährt ein Geistlicher geistlichen oder sexuellen Missbrauch, Mobbing oder Schikane, gibt es keinen Betriebsrat und keine Personalvertretung, die ihm beisteht. „Priester sind nicht nur Missbrauchs-Täter, sie können auch Opfer sein. Ich bin der erste im Amt befindliche Priester, der einen Bischof öffentlich des Missbrauchs bezichtigt“, sagt Wolfgang F. Rothe im Gespräch mit unserer Zeitung. „Seit der Veröffentlichung meiner Geschichte in mehreren Medien haben sich bereits vier betroffene Amtsbrüder bei mir gemeldet. Früher wäre es unglaublich gewesen, was man da erfährt. Mittlerweile halte ich nichts mehr für unglaublich.“

Verhängnisvolles Treffen

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Klaus Küng und Wolfgang Rothe treffen aufeinander, als Rothe Subregens (stellvertretender Leiter) des Priesterseminars in St. Pölten ist, das 2004 durch einen Skandal erschüttert wird. Auf dem Computer eines Seminaristen werden Kinderpornos gefunden. Küng soll als Apostolischer Visitator in der Diözese aufräumen. Im Oktober 2004 ernennt Papst Johannes Paul II. ihn zum Bischof von St. Pölten. Rothe wird aller Ämter enthoben.

Wolfgang Rothe wird zum neuen Bischof bestellt und erleidet während des Gesprächs einen Schwächeanfall. Was passiert dann? Über den Vorfall kann Rothe selbst 16 Jahre später nicht ruhig sprechen, er hustet, ihm bleibt die Luft weg, als er berichtet: „Daraufhin hat Klaus Küng, der ausgebildeter Mediziner ist, mir eine Tablette aufgenötigt. Er hat sie mir mit den Fingern in den Mund gesteckt und mir dann ein Glas Wasser aufgenötigt, damit ich schlucke. Weil ich mich gewehrt habe, ergoss sich ein großer Teil des Wassers über meine Kleidung. Dann hat Bischof Küng mich an Stellen berührt, wo man andere Menschen nicht ohne deren Einverständnis berühren darf. Er hat eine Notlage ausgenutzt. Ich habe mich befreien können und bin nach Hause. Dann habe ich ein großes Glas Wein getrunken. Das war ein Fehler, denn ich hatte, ohne es zu wissen, ein hochwirksames Psychopharmaka in meinem Blutkreislauf. Danach hatte ich einen Filmriss. Ich bin vom Balkon gefallen und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Die Untersuchung im Krankenhaus hat ergeben, dass ich ein Benzodiazepin im Blut hatte.“

Aufforderung zum „Schwulentest“

Der Bischof geht noch weiter. Er verlangt, dass der junge Priester sich einem „Schwulentest“ unterziehen soll. Rothe: „Nach dem verhängnisvollen Abend hat mich der Bischof bald danach wieder einbestellt. Ich bin nicht alleine hingegangen, sondern in Begleitung. Der Bischof hat gesagt, wenn ich je wieder als Priester tätig sein will, muss er wissen, ob ich schwul bin oder nicht. Als das Gutachten nicht das vom Bischof erhoffte Ergebnis brachte, dachte er sich neue Schikanen aus. Der Forensiker Harald Dreßing, der die Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz mitverfasst hat, bezeichnete das Gutachten in der ,Süddeutschen Zeitung‘ als „ungeheuerlich“ und „eindeutig diskriminierend“.“ Der „Schwulentest“ wird von dem renommierten Gerichtsgutachter Prof. Dr. Norbert Leygraf durchgeführt.

Wolfgang F. Rothe hatte eine brillante Karriere vor sich. Seine erste Doktorarbeit in Kirchenrecht schreibt er in Rom bei Erzbischof Gänswein als Doktorvater, die zweite später in Theologie in München bei Stephan Haering. Der Skandal im Priesterseminar von St. Pölten führt zu Erschütterungen auch in seiner fernen Heimat Hallenberg. Als er 2004 dort zur Urlaubsvertretung die Messe liest, verlassen zwei Gemeindemitglieder demonstrativ die Kirche. In Hallenberg lebt Rothes Vater, den er so oft wie möglich besucht. Nicht nur deshalb ist es dem Sauerländer wichtig, dass die offizielle kirchliche Erklärung bekannt wird, die man auf der Website seiner heutigen Pfarrei Christi Verklärung in München nachlesen kann. Darin steht zu St. Pölten, „dass weder staatliche noch kirchliche Untersuchungen ein Verhalten von Herrn Dr. Rothe an den Tag brachten, das zu ahnden wäre“. Der zweifach promovierte Priester arbeit im Erzbistum München als Vikar.

Keiner hat ihm geglaubt

Voller Scham und Ekel verschließt Rothe seine Erlebnisse tief in sich. 2019 jedoch sieht er im Fernsehen ein Gespräch zwischen der früheren Nonne Doris Reisinger und dem Wiener Kardinal Christoph Schönborn. Reisinger hat in mehreren Publikationen über ihre Erfahrungen mit geistlichem und sexuellem Missbrauch geschrieben. Lange hat ihr niemand geglaubt. Rothe merkt: Ihm geht es genauso, auch ihm hat keiner geglaubt. Nun fasst er Mut und zeigt Küng, inzwischen Altbischof, an. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchter Vergewaltigung, stellt das Verfahren aber wegen Verjährung ein.

Kirchenrechtlich passiert zunächst gar nichts, bis Rothe seine Beschwerde selber nach Rom meldet. Die Bischofskongregation im Vatikan teilt im April 2020 mit, dass der Vatikan den Fall als haltlos einstufe. So war es auf der Homepage des Bistums St. Pölten zu lesen. Nicht zu lesen war, dass Rothe eine „kanonische Verwarnung“ erhielt. „Ich kann mich nur über das Verfahren wundern“, konstatiert der Sauerländer. „Niemand hat mit mir geredet. Die Bischofskongregation hat keine Zeugen geladen, keine Unterlagen eingefordert. Die haben gedacht, sie hätten mit mir leichtes Spiel, weil ich als Priester vollkommen abhängig von der Kirche bin. Der amtierende Bischof von St. Pölten, Alois Schwarz, verlangt von mir, die Vorwürfe nicht weiterhin in der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten oder zu verbreiten.“

Was das Bistum sagt

Katharina Brandner, Leiterin der Pressestelle in St. Pölten, nimmt dazu Stellung: „Sämtliche von Wolfgang Rothe vorgebrachten Vorwürfe waren Gegenstand umfangreicher polizeilicher Prüfungen. Auch seitens der Kirche wurden alle seine Anschuldigungen entgegengenommen und an die zuständige Kongregation weitergeleitet. Diese hat nach eingehender Prüfung mitgeteilt, dass die Beschuldigungen haltlos sind und die Angelegenheit ad acta gelegt werden kann. Bischof Dr. Klaus Küng hat sich in der Sache umfassend geäußert und wird dies aufgrund der festgestellten Haltlosigkeit der Vorwürfe nicht neuerlich tun.“

Auch wenn es Aussage gegen Aussage steht, ist Rothe in einer besseren Situation als andere Betroffene, mit denen er seither gesprochen hat. „Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich die Untersuchungsbefunde aus dem Krankenhaus habe. Andere Betroffene haben nur ihre Erinnerungen. Vor zehn Jahren hätte mir niemand geglaubt, da hätte man gesagt, der wollte das ja.“

Sexualität als Machtinstrument

Als junger Priester gehört Wolfgang F. Rothe zu den ultrakonservativen Katholiken. „In St. Heribert in Hallenberg bin ich in einer sehr heilen katholischen Welt aufgewachsen, meine Eltern waren in der Freilichtbühne aktiv, ich wollte schon als Kind Priester werden, ich wollte nie etwas anderes werden. Im Studium bin ich dann in solche Kreise reingerutscht. Dann kam etwas dazu, was mir fremd war, dieser Moralismus. In bestimmten konservativen Kreisen und Gruppen dreht sich alles um das Thema Sexualität. Sexualität ist das zentrale Machtinstrument. Alles kreist um das Thema, aber zugleich wird es tabuisiert. Das ist der ideale Nährboden für Missbrauch.“

Als Whiskey-Vikar bekannt

Heute ist der Priester weit über Kirchenkreise hinaus bekannt geworden durch sein Engagement für den Whiskey. Er schreibt Bücher und organisiert Reisen nach Schottland. Trotz aller Erfahrungen will er Priester bleiben. „Als Seelsorger kann man heute noch viel Gutes bewirken. Ich bin gerne Priester und würde gerne Priester bleiben. Es gibt keinen Plan B.“

Umstrittener „Schwulentest“

Das Bistum St. Pölten begründet den „Schwulentest“ mit den Vorfällen in St. Pölten, wo es auch zu homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen gekommen sein soll. Sprecherin Katharina Brandner: „Von Bischof DDr. Küng (wurde) ein Gutachten durch einen renommierten Facharzt für Psychiatrie als Voraussetzung für die Rückkehr zur priesterlichen Tätigkeit angeboten. Es wäre fahrlässig, hier keine gerichtlich beeidete und zertifizierte Fachexpertise einzuholen. Vielmehr gilt es im Sinne des Kinder- und Jugendschutzes eine verantwortungsvolle Entscheidung treffen zu können.“

Psychiater Prof. Dr. Norbert Leygraf antwortet unserer Redaktion auf die Frage, ob „Schwulentests“ überhaupt statthaft sind: „Die Problematik der Fragestellung war mir damals durchaus bewusst. Dennoch habe ich mich in Anbetracht der gesamten Vorgeschichte zur Übernahme des Gutachtens entschlossen, um Herrn Dr. Rothe die Möglichkeit zu geben, die von ihm angestrebte seelsorgerische Tätigkeit unabhängig von der Frage seiner sexuellen Orientierung zu übernehmen.“