Hagen. Der Ickabog ist das neue Kinderbuch von Joanne K. Rowling. Eigentlich wollte die Harry-Potter-Erfinderin keins mehr schreiben. Es geht ums Lügen.
Sage nur niemand, Worte hätten keine magische Macht. 36 Millionen Mal sind die Harry-Potter-Romane alleine im deutschsprachigen Raum bisher verkauft worden; über 400 Millionen Exemplare gingen weltweit über den Ladentisch. Potter ist ein Longseller. Jede neue Generation entdeckt den Zauberlehrling für sich. Seine Schöpferin Joanne K. Rowling gilt als bestverdienende Autorin der Geschichte und setzt ihr Geld für zahlreiche wohltätige Zwecke ein. Seit dem Finale der Potter-Saga schreibt sie Krimis unter dem Pseudonym Robert Galbraith. Kinderbücher wollte sie nicht mehr verfassen. Und doch hat sie allen vom Lockdown geplagten Familien ein Märchen geschenkt: die Geschichte vom „Ickabog“. Darin geht es - um das Lügen.
Wer Harry Potter gelesen hat, weiß, wie scharfsinnig Rowling die Mechanismen auseinander nimmt, die zu totalitären Systemen führen: Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Chauvinismus legt sie mit virtuoser Feder gerne auch durch die Hintertür bloß. Harry kämpft gegen Zauberer, die denken, sie seien etwas Besseres, weil sie die richtigen Gene haben. Dem Hass setzt Rowling Freundschaft und Solidarität entgegen. Harry Potter ist nicht perfekt, er ist ein Held mit Defiziten. Nur im Team mit Freunden und Mitschülern wird er erfolgreich.
Eine Unwahrheit stürzt Schlaraffien in Not und Elend
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In „Der Ickabog“ geht es um ein Ungeheuer, das nie jemand gesehen hat, eben den Ickabog, Und um einen schwachen König mit einem skrupellosen Ratgeber. Der setzt eine Lüge in die Welt und dann noch eine, und binnen kurzer Zeit wird aus dem lebenswerten, reichen Schlaraffien eine Diktatur, in der Menschen sterben, Kinder ins Waisenhaus müssen und viele Väter und Mütter verarmen.
Was bringt Menschen dazu, einer Lüge zu glauben? Das ist ein Thema, das Rowling umtreibt. Und es erweist sich – wieder einmal, möchte man sagen – als geradezu prophetisches Thema. Denn der „Ickabog“ lag bei Rowling mehr als ein Jahrzehnt auf dem Dachboden. Als sie begann, das Märchen für ihre damals noch kleinen Kinder zu schreiben, hätte man sich nicht vorstellen können, dass einmal ein Donald Trump die USA regiert oder ein Boris Johnson Großbritannien, dass Leute sich in Deutschland mit Nazimärtyrern vergleichen, weil sie zum Schutz gegen eine Seuche einen Mund-Nasenschutz tragen sollen.
Im Kreuzfeuer der Transgender-Community
Rowling selbst ist zwischenzeitlich ins Kreuzfeuer geraten, und zwar in das der Transgender-Community. Die wirft der Autorin diskriminierende Äußerungen gegenüber Transgender-Personen vor, weil sie das biologische Geschlecht von Frauen und Männern für eine Tatsache hält. In der Community wird hingegen Geschlecht als soziales Konstrukt verstanden. Befeuert wurden die Attacken durch eine Twitter-Nachricht Rowlings. Darin kommentierte sie sarkastisch gendergerechte Sprachschöpfungen wie „menstruierende Menschen“. In der Transszene hält man den Begriff „Frauen“ für zu limitierend.
Rowling wird für solche Äußerungen aggressiv angegriffen, so wurde dazu aufgerufen, ihre Bücher zu verbrennen. Außerdem steht der neue Thriller ihres Pseudonyms Robert Galbraith „Böses Blut“ in der Kritik, der am 14. Dezember auf Deutsch erscheint. Darin mordet ein Serientäter in Frauenkleidern. Für Rowlings Kritiker ist das ein weiterer Beweis für eine transphobe Haltung, selbst wenn es sich um eine beliebte Verschleierungstechnik in der Krimi-Literatur handelt.
Zu bequem, um für die Wahrheit einzutreten
Sogar Rezensionen von „Der Ickabog“ fragen allen Ernstes, wie eine Autorin, die derart für die Solidarität eintrete, so diffamierend über Transpersonen schreiben könne – ohne zu recherchieren, ob Rowling mit ihren Bemerkungen über die Natur der Frauen tatsächlich andere diskriminiert und beleidigt.
Der „Ickabog“ behandelt durch die Brille des Märchens, wie eine Gesellschaft an der Lüge zerbricht – auch, weil viele Mitglieder dieses Schlaraffiens von der Lüge profitieren oder zu bequem sind, für die Wahrheit einzutreten. Rowling ist eine Meisterin der Zwischentöne, auch der Zwischentöne der Lüge, welche die Grenzen des Sagbaren erweitern - erneut eine fiktionale Verarbeitung realer gesellschaftlicher Prozesse.
Daher eignet sich das Kinderbuch weniger zum Vorlesen vor dem Einschlafen für die Kleinen, es ist vielmehr eine politische, oft regelrecht wütende Abhandlung über das Gift der politischen Lüge und über die Bedeutung der Wahrhaftigkeit als Mutterboden des sozialen Miteinanders. Rowling beweist sich hier einmal mehr als brillante und überaus kunstfertige Erzählerin – die Leidenschaft ihres Plädoyers für die Wahrheit mag auch von ihren eigenen Erfahrungen in der jüngeren Zeit beeinflusst sein.
Joanne K. Rowling: Der Ickabog. Carlsen-Verlag, 20 Euro