Hagen. Lesende Frauen sind ein beliebtes Motiv in der Kunst. Diese Tradition geht auf das mittelalterliche Andachtsbild zurück.

Lesende Frauen und Mädchen haben einen guten Stand in der Kunst. Die Leserinnen befinden sich in Gärten und in Kammern, sie lesen aus Büchern oder Briefen. Jan Vermeer, Adolph Menzel, Max Liebermann, Auguste Renoir, Lovis Corinth, Pablo Picasso, Erich Heckel, August Macke, Emil Nolde: Die Maler, die Frauen mit Büchern als Motiv wählen, gehören zu den Meistern ihrer Zunft. Doch warum ist das Thema so attraktiv? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss man weit zurückgehen. Ins Mittelalter. Zur neuen Gattung des Marienbildes.

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Die kleine westfälische Skulpturengruppe aus dem 15. Jahrhundert zeigt eine Frau, die einem Mädchen das Lesen beibringt. Ganz konzentriert folgt die Schülerin mit einem Griffel der Zeile in dem Buch, so lernte man die Buchstaben und Begriffe damals. Es handelt sich nicht um irgendeine Leserin, sondern um St. Anna, die ihre Tochter Maria unterrichtet. Seit dem 12. Jahrhundert werden Szenen aus dem Marienleben in der Malerei populär. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Zeit entwickelt sich ein neuer, gleichsam privater Bildtypus: das Andachtsbild.

Das Andachtsbild erzählt von neuer Frömmigkeit

Gemälde schmücken nun nicht mehr nur Altäre und offizielle Säle, sondern auch die Privaträume von Adeligen und Bürgern - und von Ordensleuten. Das Andachtsbild dient der Kontemplation und der Identifikation.

Die dargestellten Szenen entspringen der kollektiven Vorstellungskraft, denn die Unterweisung Mariens ist weder in der Annen-Legende noch in Beschreibungen zur Kindheitsgeschichte Mariens überliefert. Das Bildthema hat sich vielmehr aus dem Diskurs um die unbefleckte Empfängnis der Mutter Jesu entwickelt. Das Buch an und für sich hat hohen Symbolgehalt. Es geht um das Wort, das Fleisch wird. Die Skulpturen und Bilder verweisen auf das Mysterium der Menschwerdung des Gottessohns.

Dennoch beschreibt die anrührende Skulptur, die zu den Schätzen des Diözesanmuseums Paderborn gehört, auch mittelalterlichen Alltag, also Frauenbildung, gerade in unserer Region. Eine Besonderheit Westfalens sind die zahlreichen Damenstifte. Dorthin schicken die eingesessenen Familien ihre Töchter, die eine für damalige Verhältnisse hervorragende Ausbildung erhalten. Nicht alle Kinder werden Nonnen. Die meisten heiraten und geben ihr Wissen an ihre eigenen Töchter weiter.

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Das Christentum ist eine Buchreligion. Deshalb spielt auch das zweite große Urmotiv der lesenden Frau in der Kunst im christlichen Kontext. Es zeigt wieder die Gottesmutter Maria, und zwar beim beliebten Bildtypus der Verkündigung. Nun ist sie ein junges Mädchen. Sie hält sich in einem Innenraum auf, das ist Programm. Die geschlossene Umgebung soll Marias Innerlichkeit symbolisieren.

Maria im Studierzimmer

Dennoch dürfte das Altargemälde aus der Sammlung des früheren Landrats des Kreises Altena Fritz Thomée (Diözesanmuseum Paderborn) für alle diejenigen einen Schock darstellen, die sich die Gottesmutter als unbedarfte Jungfrau vorstellen. Denn der Meister der Braunschweiger Sippentafeln setzt Maria nicht wie in üblichen Verkündigungen mit einem Büchlein in der Hand an einen Tisch, sondern er platziert sie in einem Studierzimmer.

Das lesende Kind ist zu einer gebildeten jungen Frau geworden. Zahlreiche Bücher befinden sich in einem Regal, an dem Maria sitzt und studiert, als der Engel in die Szenerie eintritt. Man kann nicht richtig erkennen, welches Buch Maria in der Hand hält, doch es könnte sich vom Zeilenabstand um ein Gesangbuch handeln. Die Unterhaltung zwischen Maria und dem Engel wird auf Spruchbändern dargestellt, ganz wie in einem frühen Comic.

Das Paradies ist ein anderes Wort für den Garten

Die Landschaft, die Natur, sieht der Betrachter in dieser Verkündigung nur durch das Fenster. Die abgeschirmte Kammer hat ihre Entsprechung im Konzept des Hortus Conclusus. Die Maler positionieren die Muttergottes gerne in einem umfriedeten Garten. Das Thema hat hohen mystischen Symbolgehalt, wird aber auf einer weiteren Ebene wieder zum Wegweiser für spätere Meistermaler bis zu den Expressionisten. Gemeint ist das Paradies, und Paradies ist nichts anderes als das altpersische Wort für Garten.

Das Kunst-Thema der modernen Frau, die in ihrem Garten auf einer Bank sitzt und liest, oder die lesend im Blütenmeer spazieren geht, lässt sich also ebenfalls auf die Typologie des Marienbildnisses zurückverfolgen. Es verliert seine Attraktivität über die Jahrhunderte nicht. Emil Nolde lässt seine Frau Ada in dem Gemälde „Blumengarten, Frau im weißen Kleid en face“ (Osthaus-Museum Hagen) im Jahr 1908 zwischen paradiesisch in allen Farben explodierenden Blüten schreiten. Ada Nolde hält etwas in der Hand. Was, das kann der Betrachter nicht genau erkennen. Es könnte ein Tüchlein sein. Aber ist das wahrscheinlich? Ist es nicht eher zu vermuten, dass es sich bei dem viereckigen Gegenstand um ein Buch handelt, in dem Ada Nolde beim Lustwandeln liest?

In der eigenen Welt

Nun erahnt der Kunstfreund, was die Maler so fasziniert an der lesenden Frau. Die lesende Frau blickt nicht den Betrachter an und auch nicht den Künstler. Sie befindet sich gewissermaßen in einer anderen Welt, in der Welt des Wortes, in ihrer eigenen Welt. Das Lesen hebt sie über den Alltag hinaus.