Hagen. Die Kriminalbehörden in Nordrhein-Westfalen müssen sich in diesem Jahr mit einer Rekordzahl an Geldautomatensprengungen auseinandersetzen.
Die beiden Niederländer, die am frühen Morgen des vergangenen Samstags vergeblich versucht hatten, einen Geldautomaten in der Neheimer Fußgängerzone zu sprengen, entpuppten sich als „reisende Täter“. Eine Beschreibung, die das Bundeskriminalamt in seinem Bundeslagebild für Geldautomatensprenger nutzt. Im gut 55 Kilometer entfernten Ennigerloh im Münsterland wurden die 30 und 26 Jahre alten Männer noch an besagtem Samstag festgenommen.
Längst ist auch das Sauerland nicht mehr sicher, vor diesen Straftaten, die die Ermittler seit 2015 kennen, wie ein weiterer Versuch vor kurzem – in Marsberg-Westheim – belegt. Ein Fall von vielen im Rekordjahr 2020. Mit der Geldautomatensprengung in Krefeld-Uerdingen in der Nacht zu Mittwoch ist in diesem Jahr bereits die Zahl von 175 Fällen überschritten worden. Beim Landeskriminalamt (LKA) NRW wurde die Ermittlungskommission Heat gegründet.
Wie häufig kommen Geldautomatensprengungen in NRW vor?
Im vergangenen Jahr registrierten die Kriminalbehörden LKA-Sprecher Frank Scheulen (59) zufolge 104 Fälle, darunter 53 Versuche. 2018 waren es insgesamt 108 Fälle (68 Versuche). Am Ende dieses Jahres wird sich die Zahl womöglich fast verdoppelt haben. Bislang sind es bereits mehr als 175 Fälle, davon blieb es mehr als 100 Mal beim Versuch. In NRW sind etwa 10.000 Geldautomaten installiert.
Wie ist das Vorgehen der Täter?
„Sie reisen in der Regel aus den Niederlanden an“, schildert Scheulen, sprengen die Geldautomaten mit einem Gas-Luft-Gemisch oder mit Festsprengstoff und flüchten in hochmotorisierten, gestohlenen Fahrzeugen in einer derartigen Geschwindigkeit, dass eine Verfolgung nahezu aussichtslos ist.“ Die Taten, so der 1. Kriminalhauptkommissar weiter, finden meist zwischen 3 und 4 Uhr in der Nacht statt. Für die Sprengung und die Entnahme der Geldkassetten hielten sich die Täter weniger als drei Minuten am Tatort auf.
Was weiß man über die Täter?
Das Gros sind LKA-Ermittlungen zufolge Niederländer mit marokkanischem Migrationshintergrund, die in den Großräumen Utrecht und Amsterdam leben und zwischen 18 und 35 Jahre alt sind. Scheulen: „Wir sprechen von bis zu 500 Personen und von einem fluiden Netzwerk. Das heißt, es handelt sich um ein sehr flexibles und dynamisches Netzwerk, dass sich organisatorisch und personell in einem permanenten Wandel befindet.“
Warum sind die niederländischen Täter in NRW aktiv?
Das eigene Land, so der LKA-Sprecher, sei für die Täter offenbar nicht so attraktiv wie beispielsweise NRW: „Die Niederländer haben ein anderes Verhältnis zu Bargeld als die Deutschen, entsprechend weniger werden Geldautomaten benutzt und aufgestellt. Zudem sind die Automaten im Nachbarland häufig besser gesichert.“ Die zunehmenden Fallzahlen in NRW könnten nach LKA-Beobachtungen auch corona-bedingt sein. Da die niederländischen Grenzen zu Belgien und Frankreich geschlossen wurden, waren kriminelle Aktivitäten in diesen Nachbarländern nicht möglich. Aber, so betont Volker Willner vom Sparkassenverband Westfalen-Lippe: „Wegen der räumlichen Nähe zu den Niederlanden ist das Rheinland eher NRW-Hotspot als Westfalen.“
Gibt es weitere Tätergruppen?
„Es finden sich auch Banden mit osteuropäischen Wurzeln, die beispielsweise mit Hilfe von Spreizgeräten versuchen, Geldautomaten zu öffnen“, betont Scheulen. Vereinzelt treten auch Nachahmungstäter in Aktion, „die aber in der Regel kein hochprofessionelles Vorgehen an den Tag legen“.
Wie reagiert die Justiz auf diese Straftaten?
Frank Scheulen zufolge ist das rabiate Vorgehen bei Geldautomatensprengungen – zunehmend wird Sprengstoff verwendet – häufig mit hohen Kollateralschäden an den Gebäuden verbunden. Und: „Es ist fast schon ein Wunder, dass noch kein Anwohner, Spätheimkehrer, Zeitungszusteller oder Hundehalter beim Gassigehen ernsthaft verletzt wurde.“ Auch wegen dieser Risiken, so kann er sich vorstellen, greift die Justiz zunehmend durch. Vor Wochen wurden Geldautomatensprenger vom Landgericht Düsseldorf zu empfindlichen Freiheitsstrafen verurteilt. Aber: „Die vereinzelten Festnahmen haben noch nicht dazu geführt, die hohe Risikobereitschaft der verbliebenen Täter zu schmälern.“
Was tun Banken und Sparkassen gegen Geldautomatensprengungen?
Man habe eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen, sagt Cornelia Schulz vom Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR): „Zum Beispiel Schließung von besonders gefährdeten Geldautomatenstandorten in den Nachtstunden, Einbruchmeldeanlagen, Anti-Gas-Systeme, Aufschaltung auf Service-Leitstellen oder Einbau von Vernebelungssystemen.“ Der Schutz der Automaten sei ebenso verstärkt worden: „Dazu gehören eine höhere Widerstandsklasse der Tresore und ein erhöhter mechanischer Schutz gegen Aufhebeln.“
Banken und Sparkassen hätten – „auch in dem Wissen, dass es keine hundertprozentige Sicherheit geben wird“ – viel in die Prävention investiert, so Volker Willner vom Sparkassenverband. Was die Sache allerdings erschwere: „Es gibt eben nicht das eine Automaten-Modell, die eine Einbau-Version.“ Zumal man es mit Tätern zu tun habe, die sich ein Hase-und-Igel-Spiel mit den Behörden und den Geldinstituten lieferten. Willner: „Nehmen wir das Beispiel eingebauter Farbpatronen, die bei einem Aufbruch-Versuch ausgelöst werden und die Geldscheine unbrauchbar machen sollen. Die Täter kippen aber Katzenstreu über die Patronen, damit die Farbe auf den Scheinen quasi aufgesaugt wird.“ Weiteres Problem: Die Banden fänden Abnehmer für verfärbte bzw. ramponierte Geldscheine auf einem Zweitmarkt in Osteuropa.
Was rät das Landeskriminalamt den Geldinstituten?
Einer Handlungsempfehlung des Landeskriminalamts NRW zufolge sollten Geldautomaten im Außenbereich „mit Angrenzung an Wohnhäuser unmittelbar geschlossen“ werden. Geldautomaten im Innenbereich (Foyer, SB etc.), die an Wohnhäuser angrenzen, sollten nachts außer Betrieb genommen werden.
Führen die zunehmenden Attacken auf Geldautomaten dazu, dass Banken und Sparkassen die Zahl der Geräte senken?
Das ist nicht ausgeschlossen. Zwar sinkt generell die Zahl der Geldautomaten in Deutschland (in den vergangenen fünf Jahren um etwa 4000 auf etwa 51.000). Die Verantwortlichen wissen aber auch, dass für die Instandsetzung beschädigter Gebäude und das Ersetzen der Automaten hohe Kosten auf ihre Geldhäuser zukommen. Und auch die Versicherungspolicen steigen im Schadensfall zum Teil deutlich.