Hagen/Olpe/Siegen. In Hagen sowie dem Sauer- und Siegerland nutzen die Menschen die letzte Chance auf Freizeitspaß. Haben sie Zweifel, Bedenken oder gar Sorge?
Eigentlich sei das hier eher Frustbewältigung, sagt Stephanie Sygor. Sie wäre jetzt in Köln bei einem Konzert von einem DJ, dessen Markenzeichen eine venezianische Maske ist. Abgesagt. Da, wo die Lüdenscheiderin jetzt ist, werden allerdings auch Masken getragen: In der Innenstadt von Hagen ist der Mund-Nasen-Schutz beim Schlendern an der frischen Luft Pflicht.
Sperrstunde, Allerheiligen, Corona-Schließung
Sie und ihr Mann Stefan setzen sich draußen in ein Café. Ein Tisch ist gerade frei geworden, alle anderen sind besetzt. Die Sonne wärmt an diesem milden Oktobersamstag, der zugleich der vorerst letzte Samstag ist, an dem die Kneipen geöffnet haben. Sperrstunde um 23 Uhr, Allerheiligen, Corona-Schließung ab Montag. Wie nutzen die Menschen die letzten Stunden in voller Freiheit? Was dominiert? Die Sehnsucht nach der Normalität, von der klar ist, dass sie ab Montag noch weiter entfernt sein wird? Oder Vorsicht, weil die meisten Politiker und Ärzte raten, dringend Kontakte zu anderen Personen zu meiden?
Ein Blick reicht für eine Antwort: Die Stadt ist voll. Menschen sitzen vor der Eisdiele und vor den Cafés in Hagen, der Stadt, in der die Sieben-Tages-Inzidenz am Samstag erneut anstieg auf 191,9 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen, ehe sie tags darauf sank (174,9).
Fokus zu sehr auf Infektions- und Todeszahlen
„Wir haben am Freitag gesehen, dass das Wetter schön wird und wollten noch mal etwas Schönes unternehmen, vielleicht noch einmal etwas essen gehen“, sagt Stefan Sygor. Zweifel? Bedenken? Sorge gar? Kopfschütteln. „Wieso denn auch“, fragt Stephanie Sygor zurück. Sie und ihr Mann haben den Eindruck, dass Infektions- und Todeszahlen sowie Belegungsquoten von Intensivbetten von den Medien mit allzu großer Hingabe zusammengetragen würden. Und die Gastronomie könne nun wirklich nichts für den Anstieg der Zahlen. „Da gibt es 1000 andere Orte, die eher geschlossen werden müssten“, sagt Stephanie Sygor: „Wenn ich sehe, wie sich die Schülerinnen und Schüler morgens in den Bus quetschen…“ In Bars gäbe es wenigstens Hygienekonzepte.
Zwei Tische weiter rückt eine fünfköpfige Gruppe für ein Foto zusammen. Noch ein Tisch weiter: Zwei Freundinnen, die sich spontan getroffen haben. „Noch mal alles auskosten“, nennt Katrin Lygger aus Herdecke die Devise und rührt in ihrem Latte Macchiato.
Den Gastronomen nochmal Geld in die Kasse spülen
„Als klar war, dass die Kneipen wieder schließen, haben wir sofort gesagt: Dann gehen wir auch noch mal hin“, sagt der Hagener Nils Wolf (21). Er sitzt am Samstagabend mit seinen Freunden an zwei Tischen in der Honselstube. Das Bier kostet zwei Euro. Kannste nix gegen sagen. „Wir wollten uns noch mal in der Stadt treffen, klar, aber wir wollten in den Kneipen, in die wir auch sonst gehen, auch noch mal Geld da lassen, bevor sie vier Wochen lang keine Einnahmen haben.“ Letzte Runde und abkassieren um 22.45 Uhr, dann nach Hause. Keine ausschweifende Halloween-Party. Leider, ist aber eben so. Tschüss, bis Dezember. Dann leert sich die Stadt. „Es war voller als zuletzt“, sagt Wolf.
Einmal noch tun, was ab Montag nicht mehr möglich ist: Das wollten viele Menschen am Wochenende. Restaurants melden lückenlose Reservierungslisten über fast das gesamte Wochenende, so zum Beispiel das Dresel am Hagener Stadtrand oder das Bootshaus Biggesee in Olpe. „Als die neue Verordnung bekannt wurde, haben viele bei uns angerufen und einen Tisch reserviert“, sagt Mark Wisseling, Betriebsleiter des Bootshauses: „Es war gerade am Samstag wirklich voll und im Vergleich zu den vergangenen Wochenenden hatten wir deutlich mehr Gäste. Alle wollen noch einmal einen Kaffee oder ein Bier in der Sonne genießen.“
Gemischte Gefühle im Kino
So wie in Siegen, wo viele Menschen entlang des Siegufers sitzen. Wie Joachim und Ute Althaus. Sie feiern ihren 40. Hochzeitstag. Ohne Party, dafür mit Erstaunen. „Wir wohnen selbst hier in der Innenstadt und erleben es nun zum zweiten Mal.“
In Hilchenbach im Kreis Siegen-Wittgenstein ist ein Indianer zu sehen, der mit Tieren reden kann. Das Viktoria-Kino zeigt „Yakari“. Sandra Wagener-Schmidt ist mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern zur zweiten Nachmittagsvorstellung gekommen. „Ich freue mich für die Kinder, dass sie noch einmal die Gelegenheit haben“, sagt sie. Die Karten hatten sie schon länger, die gemischten Gefühle erst seit Mittwoch: „Ich habe eben auch eine gewisse Verantwortung“, sagt sie und deutet auf Sohn und Tochter. Aber sie vertraut auf das Sicherheitskonzept.
Das Westfalen-Bad in Hagen hat auch ein Hygienekonzept. Ein Online-Ampelsystem mit der Auslastung von Sauna und Schwimmbecken gehört dazu. „Der Sauna-Bereich steht auf Rot, wie gestern schon“, sagt ein Mitarbeiter am Sonntag. Das habe es in der Corona-Zeit noch kein einziges Mal gegeben. Maike Arning, Lehrerin aus Wetter, war an beiden Tagen da: Samstag Sauna, Sonntag schwimmen mit der kleinen Philipp. „Schön war’s“, sagt die Siebenjährige und lächelt so sehr, dass die Zahnlücken, die die Milchzähne hinterlassen haben, zu sehen sind. „Es kann mir doch keiner erzählen“, sagt Maike Arning, „dass ich ohne Risiko einen halben Tag lang mit 30 Kindern in einem geschlossenen Raum verbringen kann, ich aber zum Beispiel nicht mit mehreren Leuten durch den Wald gehen kann.“ Oder schwimmen gehen.
Wunsch der Tochter: Schwimmen
Auch Familie Olbrisch aus Bochum war schwimmen. „Unsere Tochter durfte sich noch einmal aussuchen, was wir machen, bevor wieder so viel zugemacht wird“, sagt Frau Olbrisch. Ob sie Sorgen gehabt habe? „Klar. Wir hatten die Sorge, dass das Schwimmbad zu voll sein könnte und wir nicht mehr reinkommen.“