Iserlohn. 30 Kilogramm hat er abgenommen, aber 266.000 Euro wird Ugur Ünal nicht los. Über die Absurditäten der Iserlohner Abfindungsaffäre.
Der Vorwurf, raffgierig zu sein, nagt am meisten an ihm. „Das bin ich nicht. Ich werde dies beweisen“, sagt Ugur Ünal (39), ehemaliger Außendienstmitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt Iserlohn, der von der Staatsanwaltschaft Hagen wegen Beihilfe zur Untreue angeklagt ist. Der Familienvater hatte im März 2019 eine Abfindung in Höhe von 266.000 Euro erhalten – abzüglich Steuern wurde der Nettobetrag von 177.000 Euro auf sein Konto überwiesen.
Der Vorgang löste ein politisches Beben in Iserlohn aus. Ein Beben, das im vergangenen Jahr zum Rücktritt von Bürgermeister Peter Paul Arens führte. Und auch bei den Kommunalwahlen vor wenigen Tagen hatte wohl auch diese „Abfindungsaffäre“ großen Anteil daran, dass der SPD-Bürgermeisterkandidat Martin Luckert mit gut 15 Prozent nicht einmal mehr in die Stichwahl kam und seine Partei um mehr als 12 Prozentpunkte auf gerade mal gut 19 Prozent abstürzte.
Früherer Bürgermeister und Personalchef angeklagt
Die Politik und die Kommunalaufsicht beim Märkischen Kreis hatten schon 2019 angesichts der satten Geldsumme eine Rückabwicklung des Aufhebungsvertrages gefordert. Dieser war seinerzeit unterschrieben worden von den beiden Hauptbeschuldigten laut Anklageschrift: dem damaligen Bürgermeister und dem früheren Personalchef.
„Mein Mandant hat alles dafür getan, die Abfindungssumme zurückzuzahlen“, sagt Ünals Anwalt Daniel Wüstrich: Ünal unterschrieb einen mit der Stadt ausgehandelten Rückabwicklungsvertrag, der von der Gegenseite dann doch nicht unterzeichnet wurde, zuletzt verfasste er eine Abtretungserklärung.
Darin erklären sich Ünal und dessen Ehefrau bereit, den Auszahlungsanspruch für die auf ihrem Konto liegende Abfindungssumme an die Stadt Iserlohn zu übertragen. „Was soll ich noch alles tun, damit die Stadt ihr Geld zurückbekommt und so öffentlicher Schaden rückgängig gemacht wird?“ Und doch stockt die Sache seit Monaten. Ünal will nur noch zurück an seinen Arbeitsplatz. „Ich will wieder ein normales Leben führen. Der Alptraum muss doch ein Ende haben.“
Ugur Ünal hat mehr als 30 Kilogramm abgenommen
Für Ugur Ünal ist es seit Monaten ein nervenaufreibendes Warten auf Normalität, auf eine geregelte Arbeit und ein unbeschwertes Familienleben. Der Vater zweier kleiner Kinder hat sich äußerlich verändert: Er wiegt mehr als 30 Kilogramm weniger als vor dem „Fall Ünal“. Seine vielen Radtouren sind so etwas wie ein Symbol, gegen sein Schicksal anzukämpfen. Aber die Anklage der Staatsanwaltschaft, die Verurteilung zum beruflichen Nichtstun und das Gefühl der sozialen Ausgrenzung holen ihn ständig ein. „Ich gehe abends mit Gedanken daran ins Bett und stehe morgens damit wieder auf.“
Geduld zählt nicht unbedingt zu den Stärken des türkischstämmigen Sauerländers, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Ugur Ünal hat daran zu knabbern, dass die Mühlen der Justiz bisweilen langsam mahlen. Die Anklage der Staatsanwaltschaft liegt seit dem vergangenen November beim Landgericht Hagen. Die zuständige Kammer hat bis heute nicht entschieden, ob sie das Hauptverfahren eröffnet. „Es gibt noch keine Entscheidung“, bestätigt Landgerichtssprecher Bernhard Kuchler.
Die Richter müssten derzeit eine Vielzahl an Haftsachen bearbeiten. Verfahren mit Beschuldigten in Untersuchungshaft, bei denen Fristen einzuhalten sind, „haben Vorrang“, so Kuchler. Und da sei die Corona-Pandemie, die die Arbeit der Gerichte zwischenzeitlich eingeschränkt habe.
Der Vermögensarrest bleibt weiter bestehen
Entschieden hat das Landgericht Hagen jüngst darüber, dass der sogenannte Vermögensarrest-Beschluss von Mitte Mai 2019 weiter bestehen bleibt. Seinerzeit hatte das Amtsgericht Hagen auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Abfindung und andere Vermögenswerte Ünals (Geld auf einem Bankkonto, Inhalt eines Bankschließfachs und ein Pkw) sichergestellt. Ünal schätzt die insgesamt beschlagnahmte Summe auf mehr als 380.000 Euro. Seinen Angaben zufolge verhindert der Vermögensarrest bislang, dass er den Abfindungs-Nettobetrag an die Stadt Iserlohn zurückzahlen kann: „So wird eine Rückabwicklung blockiert.“
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Bis zu einem Strafverfahren vor dem Landgericht und der juristischen Klärung, ob Ünal sich der Beihilfe zur Untreue schuldig gemacht hat, heißt es von Seiten der Staatsanwaltschaft Hagen, werde es keine Aufhebung des Arrestes geben. Sprecher Gerhard Pauli: „Wenn wir die Werte freigeben würden, wären sie nicht mehr gesichert.“
Notveräußerung von Ünals Pkw steht an
Derzeit muss das Landgericht Hagen noch über einen Einspruch der Ünal-Seite gegen einen Antrag der Staatsanwaltschaft Hagen zur Notveräußerung von Ünals Pkw entscheiden. Weil der beschlagnahmte Wagen seit mehr als einem Jahr auf einem Gelände abgestellt ist, dadurch einen deutlichen Wertverlust erlitten und bereits fast 2000 Euro an Unterstellkosten verursacht habe, so die Staatsanwaltschaft, wolle man ihn veräußern. Gerhard Pauli: „Es geht uns darum, die Kosten im Rahmen zu halten.“
Womöglich bringt ein Vergleichsvorschlag des Arbeitsgerichts Iserlohn jetzt Bewegung in die Sache. Die Stadt Iserlohn hatte gegen ihren Mitarbeiter geklagt, um gerichtlich feststellen zu lassen, dass der Aufhebungsvertrag vom Januar 2019 unwirksam und die Abfindung zurückzuzahlen sei. Die Stadt berief sich bei einem Gütetermin auf einen eigenen Formfehler bei den Verhandlungen – der Personalrat sei nicht ordnungsgemäß gehört worden.
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Jetzt hat das Arbeitsgericht nach Angaben von Anwalt Wüstrich vorgeschlagen, dass der Rechtsstreit beendet werden könne, wenn Ünal die Nettoabfindungssumme plus Lohnsteuern an die Stadt Iserlohn zurückzahlt. „Das, was wir seit Monaten angeboten haben“, so Wüstrich. Voraussetzung aber laut dem Arbeitsgericht: die Freigabe des beschlagnahmten Geldes. Doch dies wurde ja soeben erst vom Landgericht Hagen abgelehnt.
Hoffnung auf Bewegung nach der Stichwahl
Was eine Verständigung mit der Iserlohner Verwaltung bei der Rückabwicklung Anwalt Wüstrich zufolge schwierig macht: das monatelange Vakuum an der Stadtspitze nach dem Rücktritt des Bürgermeisters in Folge der Abfindungsaffäre. „Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass niemand vor der Kommunalwahl Entscheidungen in dieser Sache treffen wollte. Niemand in Politik und Verwaltung wollte offenbar in den Verdacht geraten, für eine Vereinbarung verantwortlich zu sein, die zu Lasten der Steuerzahler gehen könnte.“ Jetzt hofft die Ünal-Seite, dass der nach einer Stichwahl feststehende neue Bürgermeister oder neue Bürgermeisterin sich der Sache annimmt.
Insbesondere von der Politik fühlt sich Ugur Ünal im Regen stehen gelassen, wie er sagt. Der ehemalige Ordnungsmitarbeiter, der seit dem 1. Juni arbeitslos gemeldet ist, war jahrelang in der Wählergemeinschaft GFI (Gemeinsam für Iserlohn) kommunalpolitisch aktiv. Jetzt fühlt er sich als Spielball der Politik. „Ja, ich habe so manchem auf den Schlips getreten. Aber kann das ein Grund sein, mir meine komplette Existenz aus den Händen zu reißen?“
Stadt Iserlohn will keine Stellung nehmen
Diese Zeitung wollte von der Stadt Iserlohn wissen, woran aus ihrer Sicht bislang eine Rückabwicklung des Aufhebungsvertrages scheitert und ob man berechtigte Hoffnung hat, dass die Abfindungssumme in absehbarer Zeit wieder auf dem städtischen Konto landet und Ugur Ünal wieder beschäftigt wird. Wegen „des laufenden Verfahrens“ werde man keine Stellungnahme abgeben, so eine Stadtsprecherin.
Wie geht es weiter für Ugur Ünal? Der 39-Jährige leidet wie ein Hund, wenn er mit seiner Ehefrau und den beiden kleinen Kindern durch die Iserlohner City geht und Menschen, die ihn kennen, nicht mehr grüßen. „Ich habe schon so viel verloren“, sagt er, „ich brauche endlich wieder eine Perspektive.“