Siegen. Zu wenige Verbindungen, zu wenige Busfahrer – viele Probleme belasten den Nahverkehr. Wie Siegens Landrat sich den ÖPNV der Zukunft vorstellt.

Andreas Müller ist Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein und Vorsteher des Zweckverbandes Nahverkehr Westfalen-Lippe. Er kennt nicht nur deshalb die Probleme und Möglichkeiten, die das Thema Mobilität mit sich bringt.

Der Kreis Siegen-Wittgenstein ist in Sachen Mobilität heterogen: Es gibt mit Siegen eine Großstadt mit einer Universität, aber auch ländliche Gebiete. Wie stellt sich die Mobilität aus Ihrer Sicht dar?

Andreas Müller: Wir haben eine Mobilitätsbefragung durchgeführt. Dabei hat sich – für unsere ländliche Region wenig überraschend – herausgestellt, dass das Auto eine dominierende Rolle spielt. Nur 23 Prozent aller Wege werden zu Fuß, mit dem Rad oder Bussen und Bahnen zurückgelegt. Im NRW-Vergleich fällt vor allem der niedrige Anteil des Radverkehrs auf. Er macht nur vier Prozent aller Verkehre aus, im NRW-Schnitt sind es zehn Prozent. ÖPNV-Angebote werden in erster Linie von Schülern, Azubis und Studenten benutzt, aber auch von älteren Menschen. Insbesondere auf den Verbindungen von und nach Siegen werden Busse und Bahnen gut genutzt.

Wie ist es um die Anbindung ländlicher Gebiete wie Wittgenstein mit Bad Berleburg bestellt und inwiefern stehen sie sinnbildlich für andere ländliche Regionen?

Grundsätzlich gibt es bei uns ein gutes ÖPNV-Angebot. Bei uns werden pro Kopf mehr Buskilometer gefahren als z.B. in der 600.000-Einwohner-Stadt Essen – nämlich 50 im Vergleich zu 30. Nichtsdestotrotz sind z.B. die Taktabstände im Raum Wittgenstein in der Regel größer als z.B. im Großraum Siegen. In Wittgenstein leben 45.000 Menschen auf der gleichen Fläche wie 230.000 Menschen im Siegerland. Das schlägt sich natürlich auch im ÖPNV-Angebot nieder. Während man in Siegen durchaus auf ein eigenes Auto verzichten kann, ist das in Wittgenstein deutlich schwieriger.

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Was sind die größten Herausforderungen?

Zum einen der Fahrermangel, der Busse und Bahnen gleichermaßen betrifft. Uns fehlen im Bereich des Zweckverbandes Personennahverkehr Westfalen-Süd aktuell 40 Busfahrer, um die vorgesehenen Fahrten auch alle anbieten zu können. Das Problem wird dadurch verschärft, dass vor dem Hintergrund des Klimawandels und der geforderten Mobilitätswende überall Verkehre ausgeweitet werden. Und das in einer Situation, in der in den nächsten Jahren viele Busfahrer in den Ruhestand gehen werden. Darüber hinaus geht es um die Frage: Was ist uns die Mobilitätswende wert? Denkbar ist viel. Aber es muss auch bezahlt werden. Und das wird die kommunale Familie unter keinen Umständen alleine leisten können. Hier sind Bund und Länder gefordert.

Wie empfinden Sie die Abstimmung der Verkehrsnetze aufeinander, die Taktung und die Preisgestaltung des ÖPNV?

Ich habe mich gerade erst mit einer Befragung an alle Haushalte in Siegen-Wittgenstein gewandt, um zu erfahren, wie die Menschen unser ÖPNV-Angebot empfinden und welche Verbesserungsvorschläge sie haben. Bei der Taktung war auffällig, dass sie eine Verdopplung wünschen. Da wo es heute einen Stundentakt gibt, eher einen Halbstundentakt, dort wo Busse im 30-Minuten-Takt fahren, einen 15-Minuten-Takt. Bei den Anschlüssen zwischen Bus und Bahn gab es einzelne Hinweise, wobei dem einen kurze Umsteigzeiten zum Zug nach Köln wichtig sind, dem anderen möglichst keine Wartezeiten zwischen dem Zug aus Frankfurt und „seinem“ Bus. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist kaum möglich. Die Preisgestaltung ist ein großes Thema. Schwierig ist der Übergang zwischen den Verbünden. Wir haben z.B. direkte Grenzen zum RMV in Hessen und dem VRS. Fahrgäste in Siegen-Wittgenstein finden es im Vergleich zum Auto grundsätzlich zu teuer, mit dem Zug nach Köln oder Frankfurt zu fahren. Hier müssen wir Lösungen finden. Der ÖPNV muss aus meiner Sicht so günstig sein, dass es sich schon aus finanziellen Gründen lohnt, nicht mit dem Auto zu fahren. Deshalb bin ich ein Fan des 365-Euro-Tickets für den Nahverkehr. Ich denke, das brauchen wir nicht nur in zehn Modellregionen, sondern flächendeckend in ganz Deutschland.

Was sind die drei besten Ideen, um die Mobilität in ländlichen Regionen nachhaltig zu verbessern?

Erstens: Wir haben bereits Erfahrungen mit einem autonom fahrenden Bus gesammelt. Gerade für ländliche Regionen sind vollautonome Fahrzeuge der Schlüssel für die Mobilität der Zukunft. Denn wenn ich jederzeit ein fahrerloses Fahrzeug bestellen kann, das mich von Haustüre zu Haustüre oder zum nächsten Bahnhof bringt, dann muss ich mir über Takte von Bussen keine Gedanken mehr machen. Und auch das Fahrerproblem ist dann gelöst. Bis dahin wird es aber noch ein paar Jahre dauern. Der erste Schritt auf diesem Weg werden vermutlich fahrerlose Fahrzeuge auf fest programmierten Routen sein, was für ländliche Regionen aber auch schon ein Quantensprung wäre. Zweitens: Sharing-Fahrzeuge können zumindest den Trend zum Zweitwagen stoppen. Hier gibt es bei uns bereits verschiedene Initiativen, wie z.B. ein elektrisches Dorfauto, das von der ganzen Dorfgemeinschaft genutzt werden kann, oder Corporate-Car Sharing, das wir gerade als Kreisverwaltung testen: also tagsüber „Dienstfahrzeuge“, abends und am Wochenende für alle Bürger verfügbar. Drittens: Der Bau von Mobilstationen, die es ermöglichen einfach und bequem zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern zu wechseln: P&R mit Bus und Bahnanbindung, gesicherten Fahrradboxen, Abstellplätzen für CarSharing-Fahrzeuge usw. Nur wenn es einfach und bequem ist, vom Auto auf Fahrzeuge des Umweltverbundes zu wechseln, werden die Menschen es auch tun.

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Fehlt der Politik bei der Umsetzung einer Verkehrswende bisweilen der Mut, autounfreundliche Entscheidungen zu treffen?

Dem kann ich nicht widersprechen. Politiker wollen wiedergewählt werden. Deshalb ist kaum einer bereit, den Zorn der Autofahrer auf sich zu ziehen. Egal ob es darum geht, Parken richtig teuer zu machen, Innenstädte für Autos zu sperren, Fahrstreifen in Busspuren umzuwandeln – bei all diesen Maßnahmen sind Politiker oft extrem vorsichtig und suchen nach vermeintlichen Sachgründen, warum das alles nicht geht. Ich habe aber die Hoffnung, dass hier ein Umdenken einsetzt. Nicht zuletzt seit „Fridays for Future“ haben immer mehr Menschen das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. Deshalb bin ich guter Dinge, dass die Bürger durchaus bereit sind, Maßnahmen zu akzeptieren, die zu Lasten des Autos gehen, wenn man ihnen attraktive Alternativen bietet. Das eine ohne das andere geht nicht. Hier ist die Politik gefordert, die Angebote zu schaffen, die den Menschen eine klimafreundliche Mobilität ermöglicht.

Was versprechen Sie sich von der Kooperation der Verkehrsverbünde?

Die Menschen denken nicht in Grenzen der Verkehrsverbünde. Sie sind im ganzen Land unterwegs. Es macht wenig Sinn, dass es in jeder Region andere Regeln gibt, andere Tarifstrukturen.