Altena. 2017 wurde Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena, Opfer einer politisch motivierten Straftat. Er appelliert, die Demokratie zu verteidigen.
Vor knapp zwei Jahren ist Andreas Hollstein (CDU) in einem Imbiss in Altena angegriffen worden. Ein arbeitsloser Maurer hielt dem Bürgermeister der sauerländischen Kleinstadt ein Messer an den Hals. Den Angriff überstand der heute 56-Jährige. Doch daraus erwächst für ihn auch eine Verantwortung, die Demokratie wie wir sie kennen zu verteidigen. Widerstand erfährt er fast täglich. Während des Interviews mit dieser Zeitung bekommt er eine weitere Morddrohung.
In dieser Woche gab es ein Treffen von Kommunalpolitikern bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Thema: Hass und Hetze gegen Politiker. Was nehmen Sie mit von dem Termin?
Andreas Hollstein: Dass der Bundespräsident die Bedeutung des Themas erkannt hat und ihm einen breiten Raum verschafft hat, ist wichtig. Denn Gesellschaft muss über Beleidigungen und Bedrohungen von Staatsbediensteten sprechen, wir müssen es zum Thema machen. Und wenn ich die bundesweite mediale Welle sehe, die aus diesem Termin entstanden ist, dann hat das funktioniert.
Also ist es angekommen in der Gesellschaft?
Zumindest in der Form, dass Menschen, die es betrifft – Bürgermeister, Verwaltungsmitarbeiter, Polizisten, Rettungsdienstmitarbeiter –, sich auch trauen können, darüber zu sprechen. Viele, die Hetze, Beleidigungen und Bedrohungen schon erlebt haben, sprechen nicht darüber. Weil jeder versucht, möglichst frau- oder mannhaft mit dem Thema umzugehen. Ich habe auch früher meine Bedrohungen und Anfeindungen weggeschmissen, weil ich mich mit dem Mist nicht beschäftigen wollte. Heute geht es den konsequenten Weg zur Polizei, wenn es eine gewisse Qualität hat. Oder wird zumindest abgeheftet, weil wir gesagt haben: Wir müssen das auch alles belegen können.
Was tauscht man so aus, wenn man untereinander ist?
Wir Bürgermeister sprechen schon lange über diese Verrohung der Sitten. Eine Kollegin berichtete, dass sie einen Nagel im Reifen hatte, den offenbar jemand absichtsvoll dort versenkt hat. Bei einem anderen Kollegen hatte jemand die Radmuttern seines Fahrzeugs gelöst. Der landwirtschaftliche Betrieb von jemandem, der davon lebt und nebenbei ehrenamtlich Politik betreibt, wurde nachhaltig beschädigt.
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Hatten Sie den Eindruck, dass der Bundespräsident vom Ausmaß überrascht war?
Überrascht ist das falsche Wort. Abstrakt betrachtet, weiß er, was passiert. Aber die konkreten Schilderungen waren nochmal was anderes. Wenn da eine taffe und bewundernswerte Frau aus einer Kleinstadt in Sachsen berichtet, wie eine Horde Neonazis mit Knüppeln vor ihrem Haus gestanden hat und mit welchen Schimpfworten sie belegt worden ist, dann macht das jeden betroffen. Und es ist ein Irrglaube, dass es dabei immer um Flüchtlinge geht. Auch der neue Windpark, das Gewerbe- oder Neubaugebiet kann zu Bedrohungslagen führen.
Sie erhalten bis heute Morddrohungen. Wie gehen Sie damit um? Verändert Sie das?
Ich bin hier in dieser Stadt geboren und seit 20 Jahren Bürgermeister. Ich kenne hier jede Ecke und natürlich gibt es hier auch dunkle Ecken und dunkle Gestalten. Aber niemals hätte ich für möglich gehalten, dass mir hier etwas zustoßen könnte. Dieses Urvertrauen ist weg, es ist einer größeren Wachsamkeit gewichen. Das geht gar nicht anders, wenn man weiß, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit auf bestimmten braunen Todeslisten steht. Trotzdem bewege ich mich frei in der Stadt. Nach dem Angriff bin ich auch recht schnell wieder zu Fuß zur Arbeit gegangen, weil es ein Stück Bürgernähe für mich bedeutet.
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Gibt es also keine Einschränkungen?
Ich bin ausnahmsweise mal nicht zu meinem wöchentlichen Marktstand gegangen, weil man mich bat, zu prüfen, ob ich da wirklich hin muss. Aufgrund der Lage haben das alle verstanden, aber es ist natürlich nicht gut.
Wie erträgt Ihre Familie die Bedrohungen?
Ich hatte für mich relativ schnell nach dem Angriff entschieden, dass ich weitermache. Ich bin alter Sportler und in mir keimt dann schnell das Gefühl: Jetzt erst recht. Ich habe das – nach meinem Wertesystem – auch mit der Hilfe Gottes überstanden. Und ich sehe das so: Auch dafür, dass du weiterlebst, musst du etwas geben. Aber wenn man Familie hat, reicht es ja nicht, das für sich zu beschließen. Ich habe mit meinen vier Kindern gesprochen, die alle erwachsen sind und zum nicht mehr in Altena leben. Ertragt ihr das? Und ganz besonders schwer ist das alles für den Partner, den man liebt. Der leidet noch mehr darunter, weil er der Sache noch hilfloser ausgesetzt ist. Da gehört schon viel Kraft dazu, um so einen Weg gemeinsam gehen zu können.
Stellt jede neue Drohung alles infrage?
Das nicht. Aber es ist zumindest nicht leicht, zum Beispiel mit dem Tod von Walter Lübcke konfrontiert zu werden. Obwohl ich die Frau nicht kenne, habe ich das Bild der Familie vor mir gehabt. Was ist das für ein Dank der Gesellschaft an einen Menschen, der sich für das Gemeinwohl eingesetzt hat? Was macht das mit dem Menschen, der das mitgetragen hat? Mir tut diese Familie unsäglich leid und wir sind es der Familie Lübcke schuldig, dass wir uns als Demokraten nicht wegducken, dass wir den Mund aufmachen. Je mehr das tun, desto weniger angreifbar sind wir.
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Haben Sie das Gefühl, dass unsere Demokratie in Gefahr ist?
Wir haben Errungenschaften wie die Demokratie geerbt von unserer Eltern und Großeltern und wir haben sie als selbstverständlich erachtet, weil sie auch nie in Bestandsgefahr war. Auch jetzt nicht, wir müssen ja nicht übertreiben. Aber: Sie muss jeden Tag aufs Neue verteidigt werden. Wehret den Anfängen! Man muss wachsam sein. Wir schaffen das. Wir sind stärker als die andere Seite, die versucht unser System zu untergraben, um es in ein neues zu überführen.
Offenbar mit allen Mitteln.
Der Fall Lübcke hat eine neue Qualität. Bei den Angriffen auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und auf mich waren es psychisch labile Täter. Aber der Mord an Walter Lübcke war – nach allem, was man bisher weiß - eine geplante Tat, die auf einem Netzwerk beruht. Einer hat die Waffen besorgt, der andere hat sie benutzt. Wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass in Deutschland rechtsextreme Zirkel gibt oder geben wird, die Anschläge planen und sogar umsetzen, dann hätte ich gesagt: Das gibt es nicht. Nach allem, was ich jetzt weiß, gibt es so etwas.
Spätestens nach den NSU-Morden hätte das naheliegend sein müssen. Sind die Behörden – ein häufig formulierter Vorwurf - auf dem rechten Auge blind?
Ohne planmäßiges Vorgehen oder bösen Willen zu unterstellen, haben die Kontrollinstanzen am rechten Rand nicht genug hingeguckt. Man hat die Gefahr von dort geringgeschätzt. Aber rechts ist derzeit gefährlicher als links. Wir hatten spätestens nach den NSU-Prozessen Grund genug hinzuschauen, haben es nicht in ausreichendem Maße getan.
Unsere Historie verpflichtet zum Gegenteil.
Das war auch schon immer meine Triebfeder. Ich habe die Großeltern-Generation immer gefragt: Warum habt ihr euch 1927, 1928, 1932 nicht dagegen gestellt? Warum waren das so wenige? Wie ist das unsagbare Realität geworden? Das zweite ist meine Familiengeschichte. Mein Urgroßvater ist von den kommunistischen Machthabern in der Sowjetunion als Litauer in ein Arbeitslager gebracht worden und dort vor Hunger und an Entkräftung gestorben. Ich kenne die Beschreibung meiner Großmutter und meines Vaters aus der Kriegszeit. Da geht es um Flucht und Vertreibung.
Halten Sie für möglich, dass Unsagbares wieder Realität werden kann?
Es gibt heute viele Menschen, die solidarisch sind, die aufstehen. Aber es gibt eben auch eine große Zahl von Menschen, von denen man nicht sagen kann, wo sie stehen. Sind sie bereit, für das einzustehen, was wir in diesem Land aufgebaut haben? Oder scheuen sie sich, aktiv ins Rad zu greifen, weil es irgendwelche Nachteile haben könnte? Genau das machen sich die Rechtsextremisten zunutze. Sie sind international vernetzt, da ist eine Strategie hinter. Da ist etwas, dass wir noch nicht greifen können und wir müssen aufpassen, nicht etwas zu übersehen, von dem wir hinterher sagen, wir hätten es sehen müssen.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie hören, dass der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen einen streitbaren Text einer Schweizer Zeitung über die steigende Quote deutscher Bürger mit Migrationshintergrund empfiehlt und sagt, das sei für ihn wie „West-Fernsehen“.
Das ist irrwitzig. Wenn ich das nächste Mal jemanden aus dem Innenministerium treffe, muss ich unbedingt fragen, was vorliegen muss für die Verletzung von nachwirkenden Treuepflichten. Der Mann hat doch eine Verpflichtung gegenüber dem Staat, dem er gedient hat und der aktuell seine Pension bezahlt. Maaßen redet unseren Staat klein und schlecht. Kein AfD-Mann, sondern jemand, der in meiner Partei ist. Unvorstellbar. Das ertrage ich nur unter Schmerzen. Solche Äußerungen bereiten den Boden. Simple, einfache Menschen sind so leicht verführbar.
Es klopft an der Tür.
Hollsteins Assistentin entschuldigt die Störung und hält dem Bürgermeister ein Blatt Papier mit einer Nachricht darauf hin. Der Bürgermeister liest.
„Weitergeben?“, fragt die Dame.
„Ja, ok, weitergeben“, sagt Hollstein.
Ist etwas passiert?
Das war ein Drohanruf, eine Morddrohung, soeben in der Zentrale eingegangen. Offenbar jemand, der betrunken war und aufgeregt. Wenn die Gesamtlage anders wäre, hätte ich es auch nicht weitergegeben. So aber geht der Vorgang an die Polizei.
Melden sich die Täter häufig am Telefon?
Unterschiedlich. Manchmal landen die Täter wie dieser in der Zentrale, manchmal versuchen sie mich direkt zu erreichen und landen im Vorzimmer. Wenige Tage vor dem Mord an Walter Lübcke meldete sich ein älterer Herr, der in ruhigem Ton sagte, dass es bald einen zweiten Angriff auf mich geben werde und dass er dieses Mal erfolgreich sein würde. Manchmal erhalte ich auch Briefe. In einem war ein großes Bild von mir aus der Zeitung, schwarz-weiß kopiert, beschmiert mit roter Farbe, damit es so aussieht als wenn ich blute. Dazu der Text: Ich wünsche Ihnen Prostata-Krebs und dass Sie daran verrecken. Und dann gibt es noch die E-Mails. Der Absender, der auch Henriette Reker und anderen Kollegen aus eigener Erfahrung bekannt ist, lautet „Staatsstreichorchester“.
Der Mann, der Sie angriff, erhielt zwei Jahre auf Bewährung. Sie plädieren nicht nur deshalb für härtere Strafen, wenn Staatsbedienstete in Ausübung des Amtes angegriffen werden. Das würde helfen?
Vielleicht könnte man so einige Auswüchse in den Griff bekommen. Ich glaube, dass Strafverschärfung andere Täter abschrecken könnte. Wir sprechen immer von mehr Freiheit, mehr Liberalität. Aber wir ersticken auch manchmal an unserer Liberalität.
Was meinen Sie?
Es gibt viele Beispiele. In den neuen Bundesländern errichteten Rechtsradikale bei Pegida-Demonstrationen reihenweise kleine Galgen für Angela Merkel und Sigmar Gabriel. Vor Gericht wurde derjenige, der die Galgen hergestellt und als Kunstwerk verkauft hatte, freigesprochen. Begründung: Kunstfreiheit. Das Gut der Kunstfreiheit stellen wir also über den Schutz unseres Staates? Einen Galgen zu zeigen mit einem menschlichen Gesicht, ist keine Kunst, schon gar nicht, wenn die, die sie vertreiben, keine Künstler sind, sondern nachgewiesener Maßen Rechtsextreme. Das lässt der Rechtsstaat mit sich machen? Warum machen wir es Menschen, die unser Gemeinwesen angreifen, so einfach? Es geht hier nicht um Kritik, die muss möglich sein, sogar manchmal über die Grenzen hinaus. Aber es geht um Ehrabschneidendes und Entmenschlichendes.
Haben Sie darüber nachgedacht, Kontakt zu Ihrem Angreifer aufzunehmen?
Wenn es damals eine aufrichtige, persönliche Entschuldigung gegeben hätte, dann hätte ich das in Erwägung gezogen, weil ich da zu nah am Menschen bin. Aber wenn diese Entschuldigung eher prozesstaktisch und nicht aus eigener Hand geflossen zu sein scheint, dann habe ich damit ein Problem. Ich bin ihm einmal in der Stadt begegnet, ich habe Augenkontakt gesucht, er hat sich aber gleich weggedreht.
Sie wollten den Mann, der Sie mit einem Messer bedroht hat, freundlich grüßen?
Es ist doch klar, dass man in einer Kleinstadt wie Altena auch Menschen über den Weg läuft, mit denen man keine guten Erfahrungen gemacht hat. Das ist ja auch keine Frage des Strafmaßes. Nach drei Jahren wäre der Tag ja auch irgendwann gekommen. Das muss man aushalten, nicht nur ich, sondern auch andere. Ich habe diesem Menschen nichts getan und er hätte mir auch nichts tun müssen. Deswegen hat er das schlechte Gewissen zu haben, nicht ich. Wenn er sich jetzt melden würde und sagen würde: ,Ich würde gern mal mit Ihnen darüber sprechen‘, dann würde ich überlegen, ob ich mich der Sache aussetzen kann.
Sie sind seit 20 Jahren Bürgermeister von Altena, im nächsten Jahr ist Kommunalwahl. Kandidieren Sie erneut?
Wir haben das in der Familie schon vor der letzten Wahl lange diskutiert und werden das im Hinblick auf 2020 auch wieder tun. Die Frage ist ja, ob es für das Gemeinwesen das Beste ist, ob ich das Amt nach 20 Jahren hier – mit Betonung auf hier – genauso frisch ausüben kann wie jemand anderes. Sowohl Frage als auch Antwort ergeben sich für mich aber nicht vor dem Hintergrund von Drohungen.