Hagen/Altena. . Im Prozess um das Attentat von Altena ist der Angeklagte zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Opfer Hollstein äußert sich im Video.
Scotch, selbstgedrehte Zigaretten, all das kostet. Hätte der Angeklagte Werner S. das Geld gespart und bei den Stadtwerken seine ausstehende Wasser-Rechnung von 130 Euro beglichen, wäre es womöglich nie zu der Messer-Attacke am 27. November auf Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein gekommen.
Diesen Eindruck konnten Prozessbeobachter gestern bei der Urteilsbegründung am Hagener Landgericht bekommen.
Attentat von Altena: Urteil ist eine Überraschung
Angesichts der gestandenen Tat überraschte die Anwesenden das milde Urteil wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung: eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wird, dafür, dass Werner S. Hollstein in Todesangst versetzte, als er ihm ein 34 Zentimeter langes Messer 30 bis 60 Sekunden an den Hals drückte.
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Die strafmildernden Faktoren spielten dabei eine entscheidende Rolle.
Angeklagter befand sich in tiefer Lebenskrise
Die Kammer folgte den durchaus plausibel klingenden Ausführungen des Verteidigers Michael Aßhauers, die die Vita einer Lebenskrise beschreiben, die man vor Gericht schon oft gehört hat: Sie fängt bei der Ehefrau an, die sich von Werner S. trennte, Jahre später litt er unter einer schwerer Depression, ging von einem auf den anderen Tag nicht mehr zur Arbeit, verlor seinen Job, beantragte kein Unterstützungsgeld und vereinsamte.
Nachdem die Altenaer Stadtwerke dem 56-Jährigen den Hahn zugedreht hatten, verrichtete er nach Angaben der Kammer die Notdurft auf Zeitungspapier, um es vor dem Haus zu entsorgen, Wasser schleppte er von einem drei Kilometer entfernten Friedhof herbei.
Niemand aus seinem Umfeldtraute ihm die Tat zu
In der Gerichtspause hörte man oft die Frage, ob die Schuld anderer nicht zu sehr von der Schuld des Täters ablenke. Schuldige wie die staatlichen, sozialen Sicherungssysteme für Menschen in prekären Situationen.
Die hätten im Fall Werner S. nicht so funktioniert, wie sie funktionieren sollten, so der Richter. Einig waren sich die Gutachter: Werner S. litt unter depressiver Störung und Verbitterung.
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Zeugen für den Angeklagten: sein Umfeld. Niemand traute ihm die Tat zu: Alle, von der ehemaligen Ehefrau über den Ex-Arbeitgeber, Nachbarn und Freunde skizzierten das gleiche Bild vom Angeklagten: das eines freundlichen Mannes. Außerdem, berichtet der Richter, sei er bis zur Tat ein unbescholtener Bürger gewesen.
Bürgermeister Hollstein plädiert für Freiheitsstrafe
Staatsanwalt Jörn Kleinhans hatte zuvor in seinem Plädoyer zwei Jahre und sechs Monate gefordert. Auch er sah keinen vorsätzlichen Tötungsversuch, ging aber von einer vorsätzlichen Körperverletzung aus.
Der Nebenkläger von Andreas Hollstein plädierte für eine Freiheitsstrafe nicht unter vier Jahren. Die Kammer folgte dem nicht. Dafür fehle die Planung.
Schnittwunde sei Folge des Gerangels gewesen
Werner S. habe spontan gehandelt, als er zufällig in dem Döner-Imbiss eine Bestellung aufgeben wollte. Eine Tötungsabsicht sei nicht zu erkennen, da der arbeitslose Maurer vor Ort genügend Zeit gehabt habe, zuzustechen. „In einem hier verhandelten Fall wurde ein Tankstellenüberfall in 34 Sekunden durchgeführt“, sagt der Richter.
Die Schnittwunde am Hals sei Folge des Gerangels gewesen.
„Keine Anhaltspunkte“ für fremdenfeindliches Motiv
Die Kammer ging in der Urteilsbegründung hart ins Gericht mit den Medien, die die Fakten nicht immer so wieder gegeben hätten, wie es sein sollte.
Strafmaß gefährliche Körperverletzung
Nach § 224 StGB wird derjenige, der eine gefährliche Körperverletzung begeht, mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft.
In minder schweren Fällen allerdings liegt das Strafmaß bei einer Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten bis hin zu fünf Jahren.
Bei der Pressekonferenz der Hagener Polizei habe es ausdrücklich geheißen, dass es keine Anzeichen für einen fremdenfeindlichen Hintergrund gebe. Die meisten Medien hätten das Gegenteil berichtet, ihm eben eine solche Gesinnung zugeschrieben. „Dafür gibt es bis heute keine Anhaltspunkte“, sagt der Richter. Werner S. hätte es auch zum Anlass für die Tat genommen, wenn nicht alteingesessene Bürger der Stadt etwas geschenkt bekommen hätten.
Auftritt bei Sandra Maischberger
Stattdessen sei das Wort „Flüchtlinge“ immer wieder in den Medien aufgetaucht. Im Imbiss sei es zumindest in der ersten verbalen Bedrohung nicht gefallen. Die lautete nach Zeugenaussagen: „Ich stech’ dich ab. Du holst 200 Menschen nach Altena und ich verdurste.“ Der Richter geht in der Urteilsbegründung von Sozialneid aus.
Laut Kammer deute die mediale Präsenz des Bürgermeisters, der bereits einen Tag nach der Tat in der TV-Sendung von Sandra Maischberger aufgetreten sei, daraufhin, dass seine psychische Verfassung als nicht so tief verletzt betrachtet werden kann, wie sie oft in den Medien beschrieben worden sei.
Zu guter Letzt gibt der Richter zu bedenken, dass es bei dem Urteil keinen Promibonus geben kann. Das Urteil messe sich daran.
Bürgermeister Hollstein von Urteil zutiefst enttäuscht
Andreas Hollstein reagierte zutiefst enttäuscht über das Urteil. Bei einer eiligst anberaumten Pressekonferenz im Altenaer Rathaus bezeichnete er es als fatales Signal: „Wenn die Tötungsabsicht im Zweifel für den Angeklagten verneint wird, dann hätte man bei der gefährlichen Körperverletzung auch das Strafmaß ausschöpfen sollen.“
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Es gehe ihm nicht um sich, sondern generell um Menschen, die ihre Ämter ausüben. „Ich stelle für mich fest, dass die Fürsorgepflicht des Staates in meinen Augen durch Justitia als dritte Säule sträflich vernachlässigt worden ist.“ Wenn jemand Hilfsangebote des Staates nicht annehme, dürfe man das nicht der Gesellschaft vorwerfen. „Man kann dieses Urteil auch als Einladung missverstehen, dann, wenn man triftige persönliche Gründe hat, gegen Vertreter des Staates vorzugehen“, so der CDU-Politiker, der eine klare Positionierung forderte. In den nächsten Tagen werde er mit seinem Rechtsanwalt prüfen, ob man gegen das Urteil in Revision einlege.
Werner S. muss nicht zurück ins Gefängnis
Werner S. muss nach sechseinhalb Monaten U-Haft jedenfalls nicht zurück in die Justizvollzugsanstalt Fröndenberg. Er verlässt das Hagener Landgericht als freier Mann. Als erstes dreht sich der 56-jährige eine Zigarette, dann geht er Richtung Innenstadt. Dass er durch die mediale Präsenz seine Heimat wohl verloren habe, damit müsse er leben, gab der Richter ihm mit auf dem Weg. Ob das Wasser in dem kleinen Haus des arbeitslosen Maurers wieder fließt, wurde vor Gericht nicht erörtert.