Köln. Freiwillige gesucht: 18.000 Euro zahlt das Luft- und Raumfahrtzentrum in Köln für 60 Tage im Bett. Warum das kein leicht verdientes Geld ist.
Wochenlang lag Sylvia Nolden (44) im Dienst der Raumfahrt im Bett. Aufstehen streng verboten, nicht mal den Kopf heben durfte sie, und schlafen sollte sie tagsüber auch nicht. Alles musste horizontal erledigt werden, essen, waschen, anziehen – auch für die Toilettengänge gab es keine Ausnahmen. Stets musste der Kopf unten bleiben, darauf achtete das Studienteam am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) mit großer Konsequenz. „Mir war trotzdem die ganze Zeit nie langweilig“, erzählt Nolden, die eine Bettruhestudie in der Kölner Forschungsanlage im letzten Jahr hinter sich brachte und es „sofort noch einmal“ machen würde. „Ich bin schon ein bisschen stolz darauf, eine Astronautin zu sein, wenn auch nur auf der Erde“, sagt sie.
„Terrestrische Astronauten und Astronautinnen“ wie Sylvia Nolden üben das monatelange Liegen für die Wissenschaft. Warum das wichtig ist, kann sofort einleuchten, wenn man an die ersten Mondflüge denkt. „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit“, diesen berühmten Satz sprach Neil Armstrong, als er 1969 als erster Mensch seinen Fuß in den Mondstaub setzte. Man stelle sich vor, er wäre anschließend vor Schwäche nach dem langen Flug gestolpert und lang hingestürzt. An die erste Mondlandung wäre wohl allein sein historisches Missgeschick in Erinnerung geblieben.
Damit dies nicht passiert und die Raumfahrer und Raumfahrerinnen in Zukunft eine lange Mission fit und gesund überstehen, werden auf der Erde seit Jahren Studien durchgeführt, erklärt Andrea Nitsche vom DLR-Institut für Luft und Raumfahrtmedizin in Köln. Die 62-Jährige ist für die Auswahl und Betreuung der Testpersonen zuständig. Ziel ist es, Gegenmaßnahmen zu erproben, damit wegen der langen Untätigkeit Degenerationsprozesse von Muskeln und Knochen verhindert werden, so das DLR, das dabei mit der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa zusammenarbeitet. Derzeit sucht das Institut erneut Testpersonen für eine Bettruhestudie, die im April 2025 starten wird.
Im Bett liegen für die Wissenschaft: Tausende Bewerbungen
Tausende Bewerbungen flattern nach solchen Aufrufen auf den Schreibtisch von Andrea Nitsche. „Viele lockt die Entschädigung in Höhe von 18.000 Euro, weil sie denken: Das verdiene ich im Schlaf“, erzählt sie. „Doch wenn sie dann erfahren, wie diese Studie genau abläuft, springen viele wieder ab.“ Zudem erhält ein großer Teil allein aus medizinischen Gründen eine Absage. Gesucht werden Nichtraucher zwischen 24 und 55 Jahren, die nicht kleiner als 1,53 und nicht größer als 1,90 Meter sind und einen Body Mass Index zwischen 18 und 30 haben sollen – das entspricht ungefähr Normalgewicht. Kurz: die terrestrischen Astronauten und Astronautinnen müssen gesund und belastbar sein.
Denn: „Liegen ist anstrengend“, sagt Andrea Nitsche. „Das Bett ist zum Kopf hin um sechs Grad geneigt. Das heißt, der Kopf liegt immer niedriger als die Füße.“ Dabei verschieben sich die Körperflüssigkeiten fast genauso, wie es im Weltall passiert. Denn in der Schwerelosigkeit fließt mehr Flüssigkeit in die obere Körperhälfte und weniger in die Beine. Die Folge: Der Druck im Kopf steigt, Muskeln und Knochen bauen sich ab, der Gleichgewichtssinn ist verwirrt und das Herz-Kreislauf-System verändert sich. Sogar die Gedächtnisleistungen können abnehmen, wie Rechentests zeigen. Diese Vorgänge werden in der Bettruhestudie simuliert und Gegenmaßnahmen erprobt.
Zwölf Testpersonen wählt Andrea Nitsche schließlich aus, die sich inklusive Vor- und Nachbereitung genau 88 Tage in der Kölner Forschungsanlage aufhalten, um ihren Beitrag dafür zu leisten, damit zukünftige Raumreisende auf fernen Planeten sofort einsatzfähig sind.
Auch das Zusammenspiel der Sinneswahrnehmungen kann nach einer langen Weltraumreise gestört sein. Gehen, Hören, Sehen, Fühlen, Greifen laufen normalerweise automatisch ab. Ein Bein zu heben, um ein Hindernis zu übersteigen, darüber denkt auf Erden kein Mensch nach, kann aber nach langer Schwerelosigkeit plötzlich Mühe machen, da die Koordination nicht mehr wie gewohnt abläuft. „Das wirkt sich bei ganz alltäglichen Dingen aus“, sagt Andrea Nitsche. „Etwa wenn jemand einen Stein sieht und ein Bein heben muss, um ihn zu überwinden.“
Was von vielen Probanden und Probandinnen unterschätzt werde, sei die Herausforderung des Essens, weiß Nitsche. „Man muss ja quasi bergauf essen, und jeder erhält eine auf seine Person exakt zugeschnittene Portion. Es muss zu festgelegten Zeiten immer alles aufgegessen werden. Diese standardisierte Ernährung ist wichtig, damit die Daten nicht verfälscht werden.“ Langeweile komme trotz der vielen Tage im Bett nicht auf, sagt sie. „Es werden viele Experimente gemacht, ein großes Team kümmert sich um die Leute und wuselt um sie herum.“ Zudem gebe es im Zentrum einen großen Wohnbereich, in dem man die Betten zusammenschieben könne, um gemeinsam zu spielen oder einen Film zu sehen. Unter den zwölf „terrestrischen Astronauten“ entwickle sich schnell ein starker Teamgeist – „sie sind ja alle auf der gleichen Mission“, sagt Nitsche.
Liegen für die Wissenschaft: Von Langeweile keine Spur
Nein, langweilig sei ihr nie gewesen, meint auch Sylvia Nolden, die im vergangenen Jahr 30 Tage für das DLR im Bett lag. „Ich hatte mich eingedeckt mit Lese- und Rätselstoff. Außerdem habe ich etwas Homeoffice gemacht für den Kindergarten, in dem ich damals gearbeitet habe.“ Als sie zufällig von dem Aufruf hörte, sei sie sofort interessiert gewesen. „Ich wollte gerne einmal an einer solchen wissenschaftlichen Studie teilnehmen. Aber meine Kinder, damals zehn, elf, und 13 Jahre alt, waren zuerst gar nicht begeistert.“ Klar, das Geld sei ein Argument, aber das sei für sie nicht ausschlaggebend gewesen. Ihr Mann habe sie nach anfänglicher Verwunderung unterstützt, und als sie den Kindern versprachen: Danach fahren wir alle zusammen nach Paris ins Disney-Land, da waren sie plötzlich überzeugt.
Die größte Herausforderung für sie sei nicht das Essen, sondern das Duschen gewesen. Dafür gibt es zwar extra eine Kabine mit Gummiliege, aber sich in der Horizontalen auszuziehen, zu waschen und wieder anzuziehen, das sei doch sehr umständlich – und wie wäscht man sich liegend die Füße? Nach den vielen Tagen im Bett sei sie zunächst sehr wackelig auf den Beinen gewesen. „Am ersten Tag wollte ich zu Hause wie gewohnt die Treppe hinaufsteigen, aber das war unmöglich. Ich war völlig außer Atem.“ Aber die Kondition sei rasch wieder zurückgekehrt.
„Zu Hause manage ich eine fünfköpfige Familie“, erzählt Sylvia Nolden. „Ich habe es genossen, dass hier einmal alles für mich organisiert wurde.“
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Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat in den vergangenen Jahren viel Erfahrungen mit Kurzzeit- und Langzeit-Liegestudien gesammelt. Die erste Bettruhestudie von 1988 diente der Vorbereitung auf die D-2-Mission. Damals brachte das Spaceshuttle Columbia die deutschen Astronauten Ulrich Walter und Hans Schlegel für zehn Tage in die Umlaufbahn.
Mehr als drei Jahrzehnte später stehen Langzeitmissionen zum Mond oder Mars im Mittelpunkt der Forschung. Die nächste Studie mit einem anderen Schwerpunkt beginnt im April 2025. Interessierte können sich beim DLR bewerben:
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