Ruhrgebiet. Wo sind Pierre Pahlke und Annette Lindemann? Wieso starben zwei Geschwisterkinder? Fahnder rätseln seit Jahren, bitten um Hinweise.
Wer tötete Annette Lindemann aus Gelsenkirchen? Was haben zwei tote Babys in Dortmund und Krefeld miteinander zu tun? Wo ist Pierre Pahlke aus Essen? Fast 100 ungelöste Tötungsdelikte und Vermisstenfälle beschäftigen allein die Polizeipräsidien in Dortmund (42) und Essen (56), die jeweils für mehrere Städte zuständig sind. Für ihre „Ermittlungsgruppen Cold Cases“ haben beide Behörden auch pensionierte Beamte zurück in den Dienst geholt. Seit einem guten halben Jahr arbeiten die Kommissariate auch an diesen Fällen, unvergessen, alle drei.
Mordfall ohne Leiche
Der Fall Annette Lindemann beschäftigt die Polizei schon 14 Jahre. Erst kürzlich brachten die Cold Case-Ermittler sie wieder einmal ins Fernsehen in der Hoffnung, dass sich doch noch Zeugen finden. Die frühere Polizistin und vierfache Mutter aus Gelsenkirchen ist seit Anfang Juni 2010 verschwunden. Zuletzt gesehen wurde sie am Abend, als Lena für Deutschland den ESC gewann. Seither ist die beliebte 44-Jährige wie vom Erdboden verschluckt.
Aber Indizien für ihren Tod haben die Kollegen zuhauf, etwa Blutspuren an ihrem Bett. Den schwarzen Mercedes-Van finden sie vier Wochen später in der Haard – ausgebrannt und ohne Kennzeichen. Verbrannt wurden auch die Matratzen aus dem Ehebett, gefunden an einer Halde in Gelsenkirchen-Scholven. Im Brandschutt liegt auch ein Knopf mit DNA-Spuren.
Polizei verdächtigt den Ehemann, einen Kollegen
An einen Suizid glaubt die Kripo nicht, auch nicht daran, dass Annette Lindemann ihre Familie verlassen haben könnte. Verdächtigt wird damals wie heute der Ehemann von Annette, ebenfalls Polizist – aus Neutralitätsgründen ermittelt deshalb Essen. Er soll seine Frau im Schlafzimmer ihres Hauses, in dem sie mit ihren vier Söhnen wohnten, umgebracht haben. Erst eine Woche später meldete er sie als vermisst. Am Tag nach dem mutmaßlichen Mord soll Lindemann neue Matratzen gekauft haben. Vom Brandort der alten liefen Suchhunde schnurstracks zum Haus seines Vaters in Marl.
Die Ermittler vermuten, dass ihr Kollege versucht hat, Spuren zu vernichten. Sie finden „Widersprüche, Ungereimtheiten, Lügen“, erzählt Detlef Büttner, der sich als „Rentner-Cop“ in Essen derzeit erneut mit dem Fall befasst. Man habe dem Ehemann misstraut. Offenbar hatte er Schulden, eine heimliche Zweitwohnung und eine schwangere Geliebte. Auch auf der Dienststelle war aufgefallen, dass der Kollege Stress hatte. Es passt alles zusammen – aber Annette Lindemann bleibt verschwunden.
Die Ermittlungen werden 2014 eingestellt, der Fall „wird wohl nie geklärt werden“, schreibt damals die WAZ. Bis heute aber beißen sich die Fahnder daran die Zähne aus. Dustin Wisnewski als Leiter der Essener Ermittlungsgruppe Cold Cases erklärt das größte Problem: „Wir haben gar keine Leiche.“ Dabei vermutet man sie sogar nahe des damaligen Wohnorts. Es ist also eigentlich ein Vermissten-Fall – aber es gibt viele Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt. Nur der Beweis fehlt. Detlef Büttner mit seinem „kriminalistischen Bauchgefühl“ ist nun schon der zweite „Rentner-Cop“, der sich mit Annette Lindemann beschäftigt. Und Kripomann Wisnewski sagt: „Am Ende kann alles auch ganz anders gewesen sein.“
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Zwei Babyleichen, sechs Jahre, eine Mutter?
Es war Weihnachten, als sie das erste Kind fanden. Das Mädchen war vielleicht zwei Wochen alt und wog etwas mehr als dreieinhalb Kilo. Jemand hatte es in Handtücher eingewickelt und in einen schwarzen Rucksack gesteckt. Nach der Geburt versorgt hatte es niemand. Das tote Baby lag im Gebüsch eines Parks in Dortmund-Dorstfeld, es war Samstag, der 25. Dezember 1999.
Das zweite Kind entdeckten sie fünfeinhalb Jahre später, genau vor 19 Jahren, in Krefeld. Auch dieses Baby war in Handtücher gewickelt, der Rucksack, in dem es abgelegt wurde, war blau. Diesmal war es ein Junge, wahrscheinlich kurz nach seiner Geburt gestorben. Später erst erhielt die Polizei Viersen einen anonymen Hinweis. Eine Unbekannte schrieb dreimal an die Ermittler, mit der Hand. Eine Analyse von Papier und Text ergab: Die Frau könnte aus der ehemaligen DDR stammen. Der Brief beginnt mit: „Ich bin die Mutter...“
Die Ermittlungsgruppe Cold Case in Dortmund befasst sich derzeit auch mit dem Dortmunder Baby, jenem nie geklärten Todesfall von vor 25 Jahren – und fand heraus: Die beiden Kinder waren Geschwister. Und möglicherweise gibt oder gab es noch ein weiteres Geschwisterkind. Denn das Mädchen trug 1999 blaue Babykleidung. Von einem vor 1999 geborenen Bruder?
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Essen sucht Pierre Pahlke
Es sind nun schon bald elf Jahre. Elf Jahre ohne Pierre, den geistig behinderten jungen Mann, der am 17. September 2013 die Einrichtung in Essen-Frillendorf, in der er lebte, verließ. Und bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. 21 war der schüchterne Gladbecker damals. Wenn er noch lebt, was seine Familie immer hoffte, dann wäre er jetzt Anfang 30.
Pierre Pahlke sah man seine Behinderung nicht gleich an, aber der 21-Jährige sei geistig auf dem Stand eines Grundschulkindes geblieben, heißt es. Gerade das aber machte ihn verletzlich. Pierre ging gern spazieren, nicht weit, meist nur zum Getränke- oder Supermarkt an der nächsten Ecke. Dort wurde er zuletzt gesehen. Das war um halb sieben am Abend. Michael Detscher, 64, als pensionierter Polizeibeamter heute in der Essener Ermittlungsgruppe Cold Cases tätig, sagt den klassischen wie traurigen Satz: „Hier verliert sich die Spur.“ Bis heute.
Hatte Pierre einen medizinischen Notfall, wurde er getötet?
Intensiv suchten Angehörige und Polizei nach ihm, die setzte Hubschrauber, Hundertschaften, Hunde ein, durchkämmte Waldstücke und Parks. Nachbarn wurden befragt, DNA-Proben genommen. Im Mai 2014 bat „Aktenzeichen XY... Ungelöst“ die Zuschauer um Hilfe. Alles vergeblich. „Man weiß gar nichts“, das macht die Arbeit für Ermittler schwierig. Was ist mit Pierre passiert? Der junge Mann war ein „leidenschaftlicher Beifahrer“, sagt Michael Detscher. Ist er irgendwo eingestiegen? Hatte er einen medizinischen Notfall, ist er verstorben? Der Fall Pierre Pahlke läuft unter „Langzeitvermisstensachen“. Dabei ist nicht auszuschließen, sagt Detscher, „dass die vermisste Person getötet wurde“.
Die Ermittlungen wurden eingestellt, immer wieder aber gab es neue Spuren. Hunde verfolgten einen Geruch über die Autobahn bis in die Niederlande, Zeugen wollen Pierre 2015 im Rotlichtviertel von Amsterdam gesehen haben. Seit Detscher sich den Aktenberg wieder vorgenommen hat, gibt es Neuigkeiten: Erst Anfang Mai schickte die Polizei erneut Leichenspürhunde los. Im März gab es einen weiteren Hinweis, der Zeuge ist bekannt und wird gesucht. Michael Detscher geht inzwischen davon aus, „dass jemand aus seinem engsten Umfeld etwas mit dem Verschwinden von Pierre zu tun haben könnte“.
„Es tut sich was“, sieht Detscher, der Jahrzehnte „mit Leib und Seele“ Kripomann war und sich zunächst in Düsseldorf in die Cold Cases stürzte. Seine Neuigkeiten überraschten die Familie von Pierre, aber noch mehr sei sie erfreut. „Die Kontaktaufnahme ist wesentlich“, erklärt Detscher: „Wie zeigen, wir bleiben am Ball. Alle sind sehr dankbar, dass die Polizei sich kümmert. Immer noch.“
>>INFO: WER NIMMT HINWEISE ENTGEGEN?
Bürger können mithelfen: In Essen veröffentlicht die Polizei seit vergangenem Herbst in lockerer Folge einen eigenen Podcast („Pottcast Ungelöst – Der Krimi-Podcast der Polizei Essen“), in dem alte Fälle vorgestellt werden. So sollen eventuelle Zeugen angesprochen werden, die sich nach Jahrzehnten erinnern könnten oder eine Seelenlast nicht länger tragen wollen. Dustin Wisnewski als Leiter der Essener Ermittlungsgruppe Cold Cases hat die Hoffnung, „dass es vielleicht Mitwisser der Tat gibt oder sich die Tatverdächtigen Freunden, Verwandten oder Bekannten gegenüber offenbart haben. Wir sind auch auf diese Menschen angewiesen, die ... endlich darüber sprechen möchten.“
Wer Hinweise hat, die er loswerden möchte, kann sich an die Polizei wenden: In Essen an die Telefonnummer 0201 8290 oder per Mail an hinweise.essen@polizei.nrw.de. In Dortmund an die Nummer 0231 13 27 441 oder per Mail an die Adresse poststelle.dortmund@polizei.nrw.de. Denn bei aller modernen Kriminaltechnik wissen die Ermittler: „Ohne die Mithilfe können wir nicht erfolgreich sein.“