Essen. In der Essener City begegnet man häufig bettelnden Menschen. Wir haben sie gefragt, wie sie in diese Situation geraten sind.
Gut einen Kilometer lang ist die Strecke vom Hauptbahnhof zum Rathaus in Essen. Auf dem Weg kann man Steffi und Ali, Adam und Andreas begegnen, die mit Heroin, Methadon und Alkohol kämpfen und gerne wieder Teil der Gesellschaft wären. Da sitzt etwas abseits die Frau mit den Koffern, gegenüber ein Mann mit dem Schild „Ich habe Hunger“ und ein anderer im Rollstuhl, der bereits so lange mit HIV lebt, wie kaum ein anderer Patient in Deutschland. Sie alle betteln.
Unser Themenpaket zu „Betteln“:
- Die Bettelnden der Innenstadt – das sind ihre Geschichten
- Warum Betteln immer mehr auffällt. Die wichtigsten Antworten
- So reagieren Einzelhändler auf Bettler vor ihrer Ladentür
- Muss man sich schämen, wenn man Bettlern keinen Euro gibt?
Steffi
Steffi steht an ihrem Rollator vor der Drogerie im Hauptbahnhof. Die Mütze verdeckt das eingefallene Gesicht, das Hemd passt nicht recht zur sonstigen Kleidung. „Eine falsche Freundin“ habe sie zum Heroin gebracht, sagt Steffi. Damals war sie 19, wollte eine Ausbildung zur Altenpflegerin machen. „Das habe ich nicht mehr geschafft.“ Ein Jahr hat es dann noch gedauert, bis sie betteln musste. Seitdem ist der Bahnhof ihre Welt. Zwischen neun Uhr morgens und 23 Uhr am Abend ist sie hier anzutreffen, seit neun Jahren.
Zehn Euro koste eine „Bubble“ Heroin, sagt Steffi, vier solcher Tütchen brauche sie am Tag. Dafür reiche das Taschengeld nicht, das sie von ihrem Betreuer bekomme, zweimal 50 Euro in der Woche. Also geht sie betteln. „Das erste Mal habe ich mich sehr geschämt, also sehr, also extrem“, sagt sie. „Das war echt heftig.“ Nun ist es Routine geworden, eine Art Job. Vielleicht 80 Euro am Tag macht Steffi. „Aber ich kaufe mir davon ja auch zu essen“, sagt sie, meistens Fast Food am Hauptbahnhof.
Nachts schläft Steffi manchmal in Notschlafstellen, derzeit aber „in einem Abbruchhaus“, sagt sie, hier drückt sie sich auch die Spritzen. Bis vor fünf Jahren hatte sie eine Wohnung. „Dann habe ich Leute dort aufgenommen, die auf der Straße gewohnt haben. Ich war zu nett, jetzt bin ich auch obdachlos und mir hilft auch keiner.“ Mit ihrem Betreuer habe sie Stress, sagt sie. Der wolle sie erst mal clean sehen. „Das hab ich auch ein Jahr lang geschafft, da hatte ich sogar mal ein T-Shirt an. Aber die Leute hätten nicht so unangenehm gucken müssen. Meine Arme sehen aus, als ob ich Verbrennungen hätte.“
Manchmal wird sie beschimpft, ein paar Mal hat man Steffi angespuckt, „aber nichts Schlimmes“, sagt sie. „Wenn ich dann mal Menschen meine Geschichte erzähle, werden sie ganz ruhig.“ Der Vater alkoholkrank, die Mutter früh gestorben, zehn Jahre in einem Kinderheim. Nachzuprüfen ist Steffis Geschichte nicht. Erst gestern habe sie die Drogenhilfe angerufen, um ins Methadonprogramm zu kommen, sagt sie. „Ich hole mir jetzt was zu Essen.“ Dann ist sie unheimlich unauffällig verschwunden.
Ali
Nur wenige Meter weiter reckt Ali seinen Pappbecher in die Höhe. Er kauert am Ausgang zur Innenstadt, mitten im Geschehen – und doch könnte man ihn dort unten übersehen. Flüchtling sei er, aus dem Iran. Zwei Jahre lang habe er in der Türkei gelebt, sieben Jahre in Griechenland, nun sei er seit sieben Monaten in Deutschland. Er bekomme im Wohnheim Verpflegung und Taschengeld, vierzig Euro die Woche. Aber das genüge nicht für seine „Medizin“, dafür fehlten ihm noch die Papiere.
Ali kauft sich Methadon auf dem Schwarzmarkt, stellt sich heraus. Der 41-Jährige war schon im Iran suchtkrank, in Griechenland sei er mal vier Jahre lang clean gewesen, hat als Koch gearbeitet. „Aber in Griechenland hatte ich keine Kontrolle“, sagt er in gebrochenem Englisch. „Drogen wie Regen.“
Er sei nach Deutschland gekommen, zu seiner Mutter und seinem Bruder, um den Entzug zu schaffen. „Aber ich möchte ihnen nicht noch mehr Probleme machen, es waren schon genug.“ Darum geht er betteln. „Ich brauche fünf Euro pro Tag. Wenn ich zehn mache, kann ich mir einen Tag Pause gönnen.“ Wenn die Papiere beisammen sind, wenn er im Suchtprogramm ist, dann möchte er wieder kochen. „Ich bin gut“, sagt Ali. „Italienisch und Chinesisch sind meine Spezialität.“
Adam
Über der Straße, wo die Baustelle und ein Aufzughäuschen den Weg verengen, bilden ein Rollstuhl, eine Papiertüte und ein Spendenkästchen ein Ensemble. Jemand hat Pommes mit Chicken Nuggets abgestellt. Der Rollstuhl gehört einem Polen mit bandagierten Beinen, ein Fuß scheint amputiert. Der Stumpen riecht nach akutem Behandlungsbedarf. Er möchte seine Geschichte nicht erzählen, aber sein „Bruder“ Adam redet gerne.
Ein Lifestyle sei dieses Leben, sagt Adam zuerst. Zu Fuß sei er aus Schlesien nach Amsterdam gelaufen, nun wolle er weiterlaufen nach Berlin. Eine Tochter und einen Sohn habe er in Polen, sagt der 33-Jährige dann. Laptops habe er dort repariert. Die Pandemie habe seinen Laden ruiniert. Alle Papiere habe er verloren, erklärt er dann seine Notlage, eigentlich müsse er zur polnischen Botschaft. Schließlich fasst er es dann aber doch kurz, warum er auf der Straße lebt: Wodka.
Wie viel er trinke, zwei Flaschen? – Mehr? – Noch mehr? „Ich trinke fünf bis sechs Flaschen, die großen“, sagt Adam und wirkt dabei fast ein bisschen stolz. „Und ich kann danach noch geradeaus laufen. Ich darf auch gar nicht aufhören. Der Doktor sagt, wenn ich einfach aufhöre, dann sterbe ich. Der Doktor sagt also, ich muss trinken.“
Adam steht plötzlich auf und fragt eine Frau etwas zu laut: „Excuse me, you have a cigarette.“ Sie blinzelt und macht einen Bogen. Die Gruppe hat sich an diesem Engpass eingerichtet. Kommt das Ordnungsamt, sagt Adam, bewegen sie sich eben auf das Lüftungsgitter gegenüber.
So viele Menschen leben auf der Straße
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, für das Jahr 2022 auf rund 50.000. Das sind doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor, allerdings war dieses Niveau schon 2016 erreicht und schwankte seitdem. Vor 20 Jahren kam demnach nur jeder zehnte Obdachlose aus dem Ausland, heute sind es in Großstädten über die Hälfte. Die meisten stammen aus dem EU-Ausland, sehr viele aus Polen. Eine Hochrechnung im ersten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung kommt für 2022 auf eine etwas niedrigere Zahl: Demnach lebten rund 37.400 Menschen auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Aber natürlich bettelt nur ein kleiner Teil dieser Gruppe — und nicht alle Bettelnden sind obdachlos.
Der Raucher
EIn paar Meter weiter wartet noch ein Rollstuhlfahrer. Er brauche nur Geld für Zigaretten, sagt er, weil die Taschengeldzahlungen im Heim ausgesetzt seien. Ein Skandal, sagt er. „Ich bin einer der ältesten noch lebenden HIV-Patienten. 1986 habe ich mich infiziert. Damals habe ich viel Cortison bekommen, das hat meine Knochen kaputt gemacht. Ich sitze hier nicht gerne, und ich schäme mich sehr. Aber ich bin Raucher.“ Er verdiene relativ wenig, sagt er, „weil ich nur guten Morgen, guten Mittag und danke schön sage. So kann ich es noch mit mir vereinbaren.“
Andreas
Die Frau mit den Koffern möchte nicht erzählen. Der Bulgare mit dem Schild „Ich habe Hunger“ sagt, er verstehe kein Deutsch. Die Zigarette versteckt er hinterm Schild. Ein Pantomime, ganz in Gold, erklärt auf einem Aufsteller, dass er nur hier stehe, um seinem kranken Kind zu helfen. Ist es ein Mann oder eine Frau, die dort unter Lumpen auf der Bank schläft? Ein junger Mann im Rollstuhl will eine Obdachlosenzeitung verkaufen. All dies auf den wenigen hundert Metern bis zum Essener Rathaus.
Vor der Rathaus-Galerie ist Andreas‘ Platz. An seiner Seite sitzt Gina im Hundekorb, ein rosa Schleifchen um den Hals. Betteln mit Tieren ist eigentlich verboten in Essen, das soll dem Zurschaustellen von Tieren vorbeugen. Gina wirkt aber eher als Begleiterin durch dieses Leben.
„Arbeiten ist zwar sinnvoller“, sagt Andreas, aber Geld bekomme er hier auch zusammen. Zwei Jahre ungefähr habe er eine Hartz-IV-Sperre gehabt. Doch nun habe er eine Wohnung, sagt er, die müsse nur noch repariert werden. Er sei schon länger clean, Kokain sei seine Droge gewesen. Gabelstaplerscheine habe er zwischenzeitlich gemacht, aber gearbeitet habe er damit noch nicht.
An das erste Mal Betteln erinnert sich Andreas gut. „Hoffentlich sieht mich keiner, habe ich gedacht. Hoffentlich laufen meine Eltern nicht zufällig vorbei. Ich habe es ihnen dann irgendwann gesagt. Das war eine blöde Situation. Aber ich habe ihnen fast 30 Jahre auf der Tasche gelegen.“