Essen. Das Jobcenter Essen vermittelt seit Einführung des Bürgergeldes weniger Menschen in Arbeit. Für die Mitarbeiter eine frustrierende Entwicklung.
- Das Jobcenter Essen zieht nach fast einem Jahr Bürgergeld eine ernüchternde Bilanz
- Weniger Arbeitslose nehmen eine Arbeit an, kommen offenbar mit dem Geld zurecht
- Jobcenter sieht als Hauptgrund dafür, dass die Sanktionen mittlerweile lascher sind
Das neue Bürgergeld setzt offenbar deutlich weniger Anreize für Arbeitslose, einen Job anzunehmen. „Der Anteil derer, die damit zurechtkommen, ist gestiegen. Für manchen ist das Bürgergeld zum bedingungslosen Einkommen geworden“, zog Essens Sozialdezernent Peter Renzel nach fast einem Jahr Bürgergeld jetzt Bilanz.
Als Hauptursache sieht er die laschen Sanktionsmöglichkeiten, die dem Jobcenter im Falle einer Arbeitsverweigerung nunmehr bleiben. Ein großer Teil der Jobcenter-Kunden kooperiere zwar auch weiterhin gut und freiwillig mit den Arbeitsvermittlern. Es gebe aber auch eine größer werdende Gruppe, die das Jobcenter gar nicht mehr erreicht. Erschienen vor der Bürgergeldreform etwa 40 bis 50 Prozent der Kunden nicht zu einem Termin, sind es mittlerweile 55 bis 60 Prozent, die Termine gar nicht erst wahrnehmen. „Etwa zehn bis 15 Prozent der Kunden haben den Kontakt mit dem Jobcenter abgebrochen“, sagte Thomas Mikoteit, Abteilungsleiter im Jobcenter Essen.
Vor allem junge Arbeitslose in Essen schwänzen Jobcenter-Termine
Bei den jungen Arbeitslosen unter 25 Jahren ist das Bild noch düsterer. Mikoteit berichtet davon, dass nur noch 39 Prozent der Jüngeren den Einladungen ihres Arbeitsvermittlers folgen. „Für unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ist das zusehends frustrierend“, berichtete er aus dem Arbeitsalltag.
Das neue Bürgergeldgesetz lässt zwar auch weiterhin Sanktionen zu. Allerdings greifen diese deutlich später als früher und sind weniger schmerzlich. Den Arbeitslosen kann das Jobcenter bei Versäumnissen jetzt jeweils zehn Prozent der Leistung kürzen - bis maximal 30 Prozent in mehreren Stufen. Vor dem Bürgergeld waren schon im ersten Monat 30 Prozent möglich, wenn eine Arbeit abgelehnt wurde.*
Die Sanktionsquote des Jobcenters ist seither deutlich gesunken und liegt in diesem Jahr nur noch bei 1,4 Prozent. Damit liegt Essen zwar weit über dem Landesdurchschnitt (0,6 Prozent), was zeigt, dass Essen die Möglichkeiten aktiver nutzt als so manches andere Jobcenter. Allerdings lag in Essen die Sanktionsquote vor Corona bei rund 3 Prozent und damit doppelt so hoch.
Die Bürgergeld-Sätze ab 2024
Ab dem 1. Januar 2024 ist eine Anhebung des Regelsatzes geplant. Das Statistische Bundesamt errechnet die sogenannte Fortschreibung der Regelbedarfe jährlich anhand eines Mischindex. Dieser setzt sich zu 70 Prozent aus der Preisentwicklung und zu 30 Prozent aus der Nettolohnentwicklung zusammen.
Single-Haushalte sollen 563 Euro erhalten, was einer Steigerung von 61 Euro bzw. 12 Prozent entspricht.
Für Paare je Partner/Bedarfsgemeinschaften steigt das Bürgergeld von 451 auf 506 Euro
Jugendliche von 15 bis 18 Jahren bekommen derzeit 420 Euro, dann 471 Euro
Kinder von 7 bis 14 Jahre erhalten momentan 348 Euro, ab Januar 390 Euro
Für Kinder bis 6 Jahre zahlt das Jobcenter jetzt 318 Euro, dann 357 Euro
Jobcenter Essen vermittelt 2023 weniger Arbeitslose in Arbeit
Die Folgen sind in den Zahlen des Jobcenters Essen zu spüren. In diesem Jahr wird die Behörde weniger Arbeitslose in einen Job vermitteln. Die sogenannten Integrationen dürften gegenüber dem Vorjahr um etwa zehn Prozent auf 10.000 sinken. Am Arbeitsmarkt liege das schlechtere Ergebnis nicht, betonte Jobcenter-Chef Dietmar Gutschmidt. Dieser sei stabil, Arbeitskräfte würden gesucht.
Angesichts der Entwicklungen, die sich nach einem Jahr Bürgergeld in Essen abzeichnen, fordert Sozialdezernent Renzel wieder härtere Sanktionen. „Der Gesetzgeber hat die Pflicht, nachzuschärfen“, fordert Renzel, der schon bei der Einführung des Bürgergeldes vor knapp einem Jahr vor den negativen Folgen gewarnt hatte.
Auf mehreren DIN-A4-Seiten haben die Mitarbeiter des Jobcenters protokolliert, was sie täglich bei ihrer Arbeit erleben. „Da hören Sie unglaubliche Reaktionen“, so Renzel. Einige Kunden würden ganz offen darüber sprechen, dass sie mit dem Bürgergeld plus Minijob oder gar Schwarzarbeit gut über die Runden kämen. „Unser Ziel muss es aber sein, diese Gruppe von der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit zu überzeugen, damit sie von staatlichen Leistungen unabhängig werden. Wenn wir aber keinen Kontakt mehr bekommen, wie soll das gehen?“, fragt Renzel.
Renzel: Debatte über die Erhöhung des Bürgergeldes ist falsch
In der derzeitigen Haushaltskrise werden in der Politik die Forderungen lauter, dass die Vermittlungen in Arbeit steigen müssen, um so die hohen Sozialausgaben des Staates zu senken. Aus Renzels Sicht wirkt das Bürgergeld, wie die Erfahrungen in Essen zeigen, kontraproduktiv.
Die Debatte indes, ob das Bürgergeld angemessen ist und die geplante Anhebung ab Januar zurückgenommen werden müsse, hält Renzel für falsch. „Das ist nicht die richtige Diskussion“, sagte er. Das Bürgergeld stelle das Existenzminimum dar. Das Lohnabstandsgebot zu denjenigen, die arbeiten, sei auch bei einer Erhöhung gewahrt. Arbeiten in einem Vollzeitjob lohne sich mehr, als nur vom Bürgergeld zu leben.
Renzel hat dafür Beispiele gerechnet: Ein alleinstehender Arbeitsloser bekomme ab Januar mit Bürgergeld, Miete und Heizkosten im Monat rund 1100 Euro vom Staat. Einem Singlemann oder einer Singlefrau, die Vollzeit für den Mindestlohn arbeiten, bleiben nach Steuern und Sozialabgaben 1460 Euro. Wenn man bei beiden Gruppen Miete und Heizung abzieht, dann bleiben dem Arbeitslosen rund 560 Euro zum Leben. Die Singles im Vollzeitjob haben über 920 Euro im Monat übrig und somit fast 360 Euro mehr. Allerdings: Bei Familien mit Kindern schmilzt dieser Lohnabstand. Ein Ehepaar mit zwei Kindern erhält ab Januar im Monat fast 2800 Euro Bürgergeld zusammen mit den Kosten für Miete und Heizung.
*Den Absatz mit den Sanktionen haben wir präzisiert
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