Berlin. Gute Laune und positive Gedanken hat jeder Mensch gern – doch Experten warnen vor dem ewigen Optimismus. Welche Sätze bedenklich sind.
Sie begegnen uns im Alltag überall – in Liedtexten, auf Instagram und in Kalendern: Motivierende Sprüche wie „Positive vibes only“, „Don’t worry, be happy“ oder „Always look on the bright side of life“. Schlechte Laune? Fehl am Platz! Man muss „einfach“ immer das Positive sehen; braucht nur das richtige Mindset, um negativen Gefühlen erst gar keine Chance zu geben. Auf den ersten Blick klingt das wie ein inspirierendes Rezept zum Glücklichsein – doch eine solche Einstellung ist ungesund und kann zu sogenannter „toxischer Positivität“ führen.
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Gemeint ist damit laut Dr. Gernot Langs, Chefarzt für Psychologische Medizin und Psychotherapie der Schön Klinik Bad Bramstedt, ein „überbordender Optimismus, bei dem es darum geht, alles, was nicht in dieses optimistische Bild hineinpasst, einfach wegzudrücken“. Gesunder Optimismus zeichne sich zwar ebenfalls durch eine positive Erwartungshaltung und Vertrauen gegenüber der Zukunft aus, erkenne negative Erfahrungen aber als Teil des menschlichen Erlebens an, wie Psychotherapeut Dr. Dirk Stemper erklärt. Toxische Positivität hingegen lasse „ausschließlich“ positive Gedanken und Gefühle zu.
Experte über toxische Positvität: „Unverarbeitete Emotionen werden ins Unbewusste abgedrängt“
Doch warum ist diese „positive vibes“-Mentalität – allein auf Instagram gibt es unter dem Hashtag über 90 Millionen Beiträge – so schädlich? Bei toxischer Positivität werde ein wesentlicher Teil der Bandbreite menschlicher Gefühle unterdrückt, was die Psyche aus dem Gleichgewicht bringe, wie Stemper erklärt. Die Folgen davon könnten fatal sein: „Die unverarbeiteten Emotionen werden ins Unbewusste abgedrängt, was zu emotionalem Stress, Angstzuständen und Depressionen führt“, sagt Stemper.
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Denn negative Gefühle gehören, so Langs, nun einmal zum Leben dazu. Sie dauerhaft zu unterdrücken, sei daher nicht möglich. „Man muss sich das vorstellen wie bei einem großen luftgefüllten Wasserball. Den kann man eine Zeit lang unter Wasser drücken, aber lange hält man es nicht aus und dann ploppt das ganze Ding hoch“, sagt Langs. Nicht anders sei es bei toxischer Positivität: Die unterdrückten, negativen Gefühle würden irgendwann hervorbrechen.
„Es kann nicht alles gut sein im Leben. Das ist Selbstbetrug“, macht Langs deutlich. Alle Gefühle – auch die negativen – erfüllen außerdem wichtige Funktionen. So weise Wut auf Ungerechtigkeit hin, Scham schütze vor sozialem Ausschluss und Angst vor Gefahren. Wer das jedoch nicht zulässt und stattdessen ständig gut gelaunt sein will, blockiere somit die eigene Entwicklung eines gesunden Selbst, das sowohl mit positiven als auch negativen Aspekte des Lebens klarkommt.
Toxic Positivity – Diese Menschengruppen neigen zu dem übertriebenem Optimismus
Auch für Mitmenschen von toxisch positiven Person sei dieses Verhalten belastend. Zum einen, weil das Zensieren ehrlicher Gefühle laut dem Psychotherapeuten Stemper die emotionale Kommunikation und Intimität in Beziehungen „verfälsche“. Und zum anderen, weil ständige Positivität anderen „auf die Nerven“ gehe, so die beiden Psychotherapeuten. Deshalb bemerke man toxische Positivität meistens auch eher an anderen Menschen als an einem selbst. „Ein Anzeichen kann es sein, wenn jemand auf negative Äußerungen mit Plattheiten wie: „Denk positiv!“, oder: „Es könnte schlimmer sein“ reagiert und dabei auffallend wenig Bereitschaft für echte Einfühlung und Hilfe zeigt“, sagt Stemper.
Auch Sätze wie „Alles wird gut“ seien auffällig, denn es könne, so Langs, eben durchaus mal sein, dass nicht alles gut wird. Bei sich selbst könne ständige „Desinfektion“ negativer Gedanken auf toxische Positivität hinweisen, wie Stemper es nennt. Auch die angestrengte Vermeidung oder zwanghafte Umdeutung von negativen Seiten der Lebenswirklichkeit und das Gefühl, immer fröhlich sein zu müssen, können Anzeichen sein.
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Besonders anfällig für ein solch übertrieben positives Verhalten seien zum Beispiel Perfektionisten, da sie dazu neigen würden, sich mit unrealistischen Zielen zu identifizieren – zum Beispiel mit dem Ideal, dass immer alles toll sein muss. Deshalb treffe toxische Positivität vor allem Berufsgruppen, die „hohen sozialen und beruflichen Erwartungen ausgesetzt sind und Anerkennung durch die Anpassung an diese Erwartungen suchen“, erklärt Stemper. Dazu würden zum Beispiel Führungskräfte und öffentliche Persönlichkeiten wie Schauspieler zählen. Auch Menschen mit geringem Selbstwertgefühl und Unsicherheit seien besonders anfällig, denn durch das „Immer-Fröhlichsein“ würden sie nach Bestätigung durch das Erfüllen der Erwartungen anderer suchen.
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Psychologe gibt Rat: So lässt sich toxische Positivität überwinden
Das sei – wie so oft in der Psychologie – meistens auch auf erlernte Muster und Erfahrungen zurückzuführen, die in der Vergangenheit gemacht wurden, wie Langs erklärt. „Wenn man als Kind immer der Sonnenschein sein musste und nie traurig oder wütend sein durfte, prägt man sich dieses Verhalten ein“. Toxische Positivität könne außerdem ein Schutzmechanismus bei Menschen sein, die traumatische Erfahrungen erlebt haben und sich so unterbewusst vor negativen Gedanken und Gefühlen schützen. „Langfristig ist das aber keine Lösung. Stattdessen bedarf es einer gesunden Selbstakzeptanz und dem Erkennen der eigenen wahren Bedürfnisse“, erklärt Stemper. Doch wie funktioniert das?
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Indem man sich selbst und anderen erlaubt, so Stemper, „authentisch zu sein und alle Emotionen – sowohl positive als auch negative – ohne Urteil auszudrücken“. Dabei helfen können zum Beispiel Achtsamkeitsübungen, Meditation oder eine professionelle Therapie, durch die man lernt, gesunde Strategien für den Umgang mit Emotionen zu entwickeln. Ganz nach dem Motto: „All vibes are welcome“ statt „Positive vibes only“.