Bochum. Der Angriff der Hamas war grausam. Das Völkerrecht sagt, Israel hat das Recht auf seiner Seite. Dennoch ist nicht jede Kriegshandlung erlaubt.

Nach dem grauenhaften Überfall von Hamas-Terroristen am 7. Oktober schlägt Israel mit aller Härte zurück. Ziel ist der endgültige Sieg über die Hamas, die Zerstörung der Tunnel und Raketen. Tausende Zivilisten sind seither ums Leben gekommen, die humanitäre Lage im Gaza-Gebiet ist nach Ansicht von Beobachtern furchtbar. Moralisch lässt sich über die harte Reaktion Israels je nach Sichtweise streiten. Aber wie ist das militärische Vorgehen rechtlich zu bewerten? Steht es im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht? Christopher Onkelbach fragte Pierre Thielbörger, Professor für Völkerrecht an der Ruhr-Uni Bochum. Er sagt: „Humanität ist das Gebot der Stunde.“

Manche Beobachter halten die israelische Reaktion für unverhältnismäßig, Tausende Zivilisten sterben, der Ruf nach Waffenpausen wird dringlicher. Ist die Reaktion Israels völkerrechtlich angemessen?

Pierre Thielbörger: Zivilpersonen und zivile Objekte kommen in bewaffneten Konflikten regelmäßig auch zu Schaden. Das lässt sich kaum vermeiden und das erkennt das humanitäre Völkerrecht auch an. Zivile Opfer und Schäden dürfen aber niemals im Missverhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil der angreifenden Partei stehen. Das schreibt das sogenannte Übermaßverbot im humanitären Völkerrecht klar vor. Ob das gegenwärtig der Fall ist, lässt sich aufgrund der unklaren Faktenlage aktuell kaum beantworten, wird aber in der Aufarbeitung des Konflikts zu beurteilen sein.

Greift das Selbstverteidigungsrecht Israels auch gegenüber einer nichtstaatlichen Miliz wie der Hamas?

Das exterritoriale Selbstverteidigungsrecht gegen einen Angriff eines nicht-staatlichen Gewalt-Akteurs ist im Völkerrecht schwieriger herzuleiten als etwa die Selbstverteidigung gegen einen anderen Staat. Beim Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine ist der Fall glasklar. Palästina wird von den meisten Staaten als Staat anerkannt, von Israel, den USA und auch von Deutschland aber nicht. Das verkompliziert die rechtliche Einschätzung, ändert aber am Ergebnis nichts. Ja, Israel kann sich auch gegenüber der Hamas auf sein Selbstverteidigungsrecht berufen.

Israel hat zahlreiche zivile Einrichtungen zerstört, darunter Schulen und Krankenhäuser – ist das völkerrechtlich legitim?

Grundsätzlich nicht, denn es gilt das Unterscheidungsgebot. Militärische Ziele wie Militärcamps oder Waffenlager dürfen angegriffen werden, zivile Einrichtungen nicht. Schwierig wird es, wenn diese Kategorien vermischt werden, wenn also etwa Krankenhäuser militärisch genutzt werden. Solche „Dual Use“-Objekte (doppelte Verwendung) verlieren ihren Schutz als zivile Objekte, wobei die angreifende Partei, also Israel, belegen muss, dass die militärische Nutzung wirklich gegeben ist und ein hoher militärischer Vorteil durch den Angriff besteht.

Prof. Dr. Pierre Thielbörger leitet das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum.
Prof. Dr. Pierre Thielbörger leitet das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum. © FUNKE Foto Services | Bastian Haumann

Sie schreiben in Ihrer Analyse, dass beide Seiten, also die Hamas und auch die israelische Armee, die Zivilbevölkerung schonen und warnen müssten – ist das in diesem Konflikt gegeben?

Dass beide Parteien diese Verpflichtung haben, ist zutreffend. Ob dies momentan gegeben ist, kann derzeit niemand verlässlich beurteilen. Aber man kann festhalten, dass die Angriffe der Hamas auf grenznahe Städte oft gerade nicht zwischen militärischen und zivilen Personen unterschieden haben. Beim Angriff auf das Musikfestival wurden sogar ganz gezielt Zivilisten attackiert und verschleppt. Israel warnt die Zivilbevölkerung immerhin, Nord-Gaza zu verlassen. Das ist vom Völkerrecht auch so gefordert, entbindet Israel aber natürlich nicht von der Pflicht, die dort verbliebenen Zivilisten zu schützen. Ob Israel dieser Pflicht nachkommt, ist schwierig zu beurteilen.

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Der Angriff der Hamas richtete sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung – rechtfertigt dies ein ähnliches Vorgehen Israels?

Nein. Auch wenn eine Seite klar und eklatant das Völkerrecht gebrochen hat, wie es beim Angriff der Hamas eindeutig der Fall war, muss sich die Gegenseite an das Völkerrecht halten. Würde Israel nun also gezielt Zivilisten und zivile Objekte angreifen, wäre das ein Verstoß gegen das Völkerrecht – unabhängig von der Frage, ob die Hamas zuvor dasselbe oder sogar schlimmeres getan hat.

Israel hat zeitweise die Zufuhr von Wasser, Lebensmitteln und Energie unterbrochen – wie bewerten Sie das?

Das humanitäre Völkerrecht ist hier eindeutig. Das Aushungernlassen einer Bevölkerung und das Abschneiden lebensnotwendiger Wasser- und Stromversorgung sind als besonders unmenschliche Kriegshandlungen geächtet. Schwieriger ist die Frage für Treibstoff zu beantworten, denn hier kann der militärische Vorteil, die Versorgung abzuschneiden, groß sein.

Sie sagen, für beide Seiten gilt das Völkerrecht. Doch wie bindend ist das? Konkret gefragt: Was schert die Hamas das Völkerrecht?

Ja, beide Parteien - auch die Hamas, obwohl sie kein Staat ist – sind an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Staaten wollen insgesamt ungern als völkerrechtsbrüchig angesehen werden. Das gilt auch für Israel. Bei der Hamas ist es schwieriger, denn sie ist eine militant-islamistische Gruppe. Ihr internationaler Ruf dürfte ihr nicht sehr wichtig sein. Staaten müssen die Ereignisse noch stärker zum Anlass nehmen, sich von der Hamas glasklar zu distanzieren, wie es einige arabische Staaten nach dem 7. Oktober auch getan haben. Das bedeutet auch, dass diese Gruppe nicht weiter aus dem Ausland finanziell unterstützt werden darf. Und Hamas-Kämpfer sollten sich klarmachen, dass Kriegsverbrechen mit sehr hoher oder sogar lebenslanger Freiheitsstrafe geahndet werden und dass es einen großen Konsens in der Staatengemeinschaft gibt, Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.

„Es gilt das Prinzip der Menschlichkeit“, schreiben Sie. Ist dieses Prinzip angesichts der Gräuel nicht komplett diskreditiert?

Was ich beschrieben habe, ist, dass nicht Reziprozität (Gegenseitigkeit: Wie Du mir so ich Dir) den Regelungen des humanitären Völkerrechts zugrunde liegt, sondern Humanität. Ich muss mich daher als Kriegspartei nicht nur dann an die Regeln des humanitären Völkerrechts halten, wenn mein Kriegsgegner dies tut. Die Regeln gelten bedingungslos. Dass das Leid in bewaffneten Konflikten oft trotzdem so unermesslich groß ist, liegt nicht am humanitären Völkerrecht, sondern daran, dass sich die Kriegsparteien oft nicht daran halten.

Lässt sich das Völkerrecht in diesem Konflikt überhaupt durchsetzen und wenn ja: wie?

Es gibt grundsätzlich zwei Durchsetzungsmechanismen. Einerseits kann man gegen die Kriegsparteien vorgehen, falls sie das Völkerrecht gebrochen haben. Andererseits können auch die einzelnen Täter vor Strafgerichte gestellt werden. Ob der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag für solche Verfahren infrage kommt, ist wiederum eine kompliziertere Frage. Bisher hat sich Israel diesem Gericht gegenüber sehr kritisch gezeigt.

Was nützt überhaupt ein Regelwerk wie das Völkerrecht angesichts dieser unfassbaren Gewalt?

Es ist immer leicht, auf das humanitäre Völkerrecht zu schimpfen und zu sagen, es habe wieder einmal versagt. Aber: Wenn wir keine Regeln in bewaffneten Konflikten hätten, wäre das Leiden noch viel größer. Dann würden die Konfliktparteien willkürlich wüten, so wie es über Jahrtausende in Kriegen der Fall war. Außerdem bildet das humanitäre Völkerrecht einen Maßstab, der im Umgang mit Konflikten und auch nach Konflikten wichtig ist: Nur wenn es verbindliche Regeln gibt, kann deren Verletzung später auch bestraft werden. Die Lösung ist also, das humanitäre Völkerrecht zu stärken! Es ist eine der letzten Bastionen der Menschlichkeit, die wir haben und dringend brauchen.

>>>> Zur Person:

Pierre Thielbörger ist Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum, wo er auch das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) leitet. Derzeit ist er Gastprofessor an der University of Sydney in Australien.

Thielbörger studierte Rechtswissenschaft in Hamburg, Montreal und Berlin. Seit 2011 ist der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftler als Professor an der Ruhr-Uni Bochum tätig.