Essen. Der VRR hat schon 400.000 Deutschlandticket-Inhaber unter seinen Kunden. Das Mobilitätsverhalten im Ruhrgebiet ändert sich aber kaum.

Trotz hoher Verkaufszahlen und einer großen Werbewirkung für den öffentlichen Nahverkehr verändert die Einführung des Deutschlandtickets das Mobilitätsverhalten der Menschen im Ruhrgebiet bisher offenbar kaum. Umfragen des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) zum Mobilitätsverhalten der Menschen zwischen 18 und 80 Jahren zeigen, dass es dem ÖPNV auch mit Deutschlandticket bislang nicht gelingt, die große Gruppe der ÖPNV-Vermeider zu knacken.

Verkehrsmanager: Günstiger Ticketpreis im Nahverkehr allein reicht nicht

In einer Befragung im Mai gaben 45 Prozent der Befragten an, den Nahverkehr nie zu nutzen. 19 Prozent fuhren seltener als einen Tag pro Woche Bus oder Bahn, lediglich jeder Fünfte gab an, an mindestens vier Tagen in der Woche das Nahverkehrsangebot zu nutzen. Die Werte spiegeln in etwa das Nutzungsverhalten während der Coronajahre wider. Vor Corona gab es vor allem mehr Gelegenheitsfahrer, aber auch damals waren die ÖPNV-Dauerkunden in der Minderheit. In den Großstädten der Region wird der ÖPNV stärker genutzt als in den kleineren Kommunen. Aber selbst dort, wo das kommunale Nahverkehrsnetz vergleichsweise engmaschig ist, liegt der Vielfahrer-Anteil maximal bei einem Drittel.

Auch interessant

Aus Sicht führender Verkehrsmanager der Region reicht ein günstiger Ticketpreise im Nahverkehr daher allein nicht aus, eine „Verkehrswende“ im Sinne der Klimaziele herbeizuführen. Um die Menschen zur Abkehr vom Auto zu bewegen, brauche es neben günstigen ÖPNV-Tarife und einem besseren Fahrplan „restriktivere Maßnahmen“ zur Eindämmung des Pkw-Verkehrs, sagte Ruhrbahn-Chef Michael Feller der WAZ. „Wir müssen weg von der autogerechten Stadt und die kommunalen Räume neu denken“, betonte VRR-Vorstandsmitglied José Luis Castrillo.

Erst acht Prozent echte Neukunden

Europäische Nachbarländer seien auf diesem Weg inzwischen viel weiter. Das Auto aus den Innenstädten zu verdrängen, sei längst nicht mehr die Sonderrolle einiger weniger privilegierter Metropolen wie Wien oder Kopenhagen. „In Spanien sind verkehrsberuhigte Innenstädte mit Tempo-30-Zonen für alle Kommunen ab 50.000 Einwohner längst Pflicht“, nennt Castrillo ein Beispiel. Maßnahmen gegen den Autoverkehr gebe es auch in Italien.

Auch interessant

Rund elf Wochen nach dem Start des ersten bundesweit gültigen Nahverkehrstarifs gibt es bereits 400.000 Deutschland-Ticket-Abonnenten im Bereich des VRR. Kommen wie geplant Lösungen für Schüler, Studierende und Sozialticket-Berechtigte, rechnet der VRR bis Ende des Jahres mit weit über einer Million Nutznießer des gegenüber bisherigen Angeboten stark vergünstigten Monatstarifs. Allerdings gibt es bislang erst acht Prozent „echte“ Neukunden. Die meisten D-Ticket-Nutzer hatten schon vorher einen ÖPNV-Dauertarif.

Der D-Ticket-Boom

Für viele ÖPNV-Verantwortliche war die Idee eines preiswerten Einheitstickets für den Nahverkehr anfangs der zweite Schritt vor dem ersten. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten Investitionen in den Ausbau des Nahverkehrs am Anfang stehen müssen. Längst hat sich der Blick gewandelt. „Das Deutschlandticket ist und war ein Riesenhebel für die Weiterentwicklung des ÖPNV“, sagt José Luis Castrillo heute und spricht vom „enormen Werbeeffekt für den Nahverkehr in Deutschland“, den das Ticket ausgelöst habe. „Europa beneidet uns um das D-Ticket, selbst in der Schweiz, wo im Nahverkehr praktisch alles besser läuft als bei uns, beobachtet man die Entwicklung sehr aufmerksam“, so Castrillo.

Auch interessant

Michael Feller sieht die Wirkung pragmatisch: „Das D-Ticket hat uns geholfen, aus dem Corona-Loch herauszukommen. In den ersten Wochen nach Einführung sind wir in der Auslastung wieder annähernd bei 100 Prozent des letzten Vor-Corona-Jahres 2019, auf manchen Linien sogar über 100 Prozent. Das haben wir so nicht erwartet.“ Noch Ende 2022 habe die Auslastung bei 80 bis 95 Prozent des Niveaus von 2019 gelegen.

Ein großer Schub für die Digitalisierung – oder doch nur ein kleiner?

Das D-Ticket hat – für deutsche Verhältnisse – einen regelrechten Digitalisierungsschub im ÖPNV ausgelöst. Von den insgesamt 400.000 D-Ticket-Abos im VRR gingen 175.000 online über die Ladentheke und sind bei den Kunden jetzt per Barcode über die jeweiligen Apps des VRR und der beteiligten Verkehrsbetriebe auf den Smartphones der Kunden hinterlegt. Das katapultierte die Digitalisierungsquote im Ticketbereich von ursprünglich maximal fünf auf nun annähernd 44 Prozent hoch. Die Mehrheit der Kunden setzte allerdings weiter auf den bewährten Plastikfahrausweis im Scheckkarten-Format. Bei der Ruhrbahn wollten sogar rund Dreiviertel aller Kunden das Ticket in Kartenform. „Viele unserer Kunden haben dafür lange Wartezeiten an den Kundencenter in Kauf genommen“, wundert sich Michael Feller. Dabei habe die digitale Ticketvarianten eigentlich nur Vorteile: Keine Wartezeiten, sofortige Gültigkeit, einfacheres Kündigen. Tausende Ruhrbahn-Kunden warten derzeit auf die in Taiwan produzierten Chipkartenform. „Wir haben 135.000 Exemplare nachbestellt“, sagt Feller. Wann sie in Essen und Mülheim eintreffen? Unbekannt, so der Ruhrbahnchef.

Gesucht: der „Neuneukunde“

Nur 8 Prozent der 400.000 D-Ticket-Käufer im VRR sind tatsächlich Neukunden, also Menschen, die zuvor nie oder nur ganz selten Bus und Bahn gefahren sind. Wie Erhebungen zeigen, liegt die Quote der im Branchensprech „Neuneukunden“ genannten D-Ticket-Nutzer bundesweit sogar bei nur 7 Prozent. Die große Mehrzahl der neuen D-Ticket-Abonnenten hat schon vorher den ÖPNV genutzt, wenn auch nicht mit einer Dauerkarte, sondern mit zeitlich begrenzten Monatskarten oder den bei Gelegenheitsfahrern beliebten Vierer-Tickets. Allein davon hat der VRR in guten Monaten 350.000 Stück verkauft. „Mit dieser Entwicklung haben wir gerechnet. Das Deutschlandticket verändert das Mobilitätsverhalten nicht sprunghaft“, so Castrillo.

Die Kündigungsrate steigt

Geändert hat sich ein anderes Verhalten. „Ob wegen Krankheit, Urlaub oder aus anderen Gründen: Wer ein monatlich kündbares Ticket hat, der nutzt das Ticket auch flexibler“, sagt Castrillo. Die Kündigungsrate liegt bei aktuell rund 10 Prozent. Castrillo: „Eine so hohe Kündigungsrate ist für uns neu.“ Trotzdem wachse der Abonnentenstamm weiter an. Ein weiterer Trend: Das D-Ticket verändert das Nutzerverhalten. „Wir beobachten, dass vor allem der Freizeitverkehr zulegt“, sagt Castrillo.

Die meisten fahren Auto

Keine Illusionen machen sich die beiden Verkehrsmanager in Sachen Verkehrswende. Umfragen des VRR zum Mobilitätsverhalten der Menschen zwischen 18 und 80 Jahren zeigen, dass es dem ÖPNV auch mit Deutschlandticket bislang nicht gelingt, die große Gruppe der ÖPNV-Verweigerer zu knacken. In einer Befragung im Mai (siehe Grafik) gaben 45 Prozent der Befragten an, den Nahverkehr nie zu nutzen. 19 Prozent fuhren seltener als einen Tag pro Woche Bus oder Bahn, lediglich jeder Fünfte gab an, an mindestens vier Tagen in der Woche das Nahverkehrsangebot zu nutzen. Die Werte spiegeln in etwa das Nutzungsverhalten während der Coronajahre wider. Die Zahlen bestätigen die Tendenz anderer gängige Umfragen zum Thema.

Das D-Ticket allein macht noch keine Verkehrswende

Auch interessant

Allein über einen günstigen Ticketpreis kann die Verkehrswende offenbar nicht gelingen. „Der Autofahrer ist nicht preissensibel, sonst wäre er ja kein Autofahrer“, sagt Michael Feller mit Blick auf die in der Regel hohen Anschaffungs- und Unterhaltskosten für den eigenen Pkw. Um die Menschen zur Abkehr vom Auto zu bewegen, brauche es neben günstigen ÖPNV-Tarife und einem besseren Fahrplan „restriktivere Maßnahmen“ zur Eindämmung des Pkw-Verkehrs. Kurz gesagt: Autofahren muss teurer und unbequemer werden. City-Maut, höhere Parkgebühren und Spritpreise sind die Schlagworte, die ÖPNV-Manager seit Jahren in die Debatte werfen, wohl wissend, dass Einschränkungen für Autofahrer politisch heikel sind.

Wie lange bleibt’s bei 49€ ?

Faktisch ist die Finanzierung des Deutschlandtarifs nur für dieses Jahr gesichert. Bund und Länder müssen sich im Herbst einigen, wie es weiter geht. Castrillo: „Zum Ende des Jahres sollte eine Finanzierungszusage inklusive einer Nachschusspflicht vorliegen. Die Kommunen können das nicht kompensieren.“ Niemand könne ein Interesse daran haben, dass das Ticket wegen der rasant steigenden Kosten im ÖPNV wieder abgeschafft werde oder die Verkehrsunternehmen ihre Bestandsverkehre reduzieren müssten. Beide Verkehrsmanager plädieren daher für eine kontinuierliche Preisentwicklung, ermittelt über einen transparenten Preisindex. Wegen der kurzfristigen Einführung im Mai rechnet Castrillo trotz Inflation und hoher Energiekosten allerdings damit, dass der D-Ticket-Preis 2024 vorerst stabil bleibt.

Ohne das D-Ticket wäre der ÖPNV bald so teuer wie nie

Die alljährlichen Preiskarussell im VRR wirkt im Zeitalter des D-Tickets eigentlich überflüssig. Die Alt-Tarife bleiben aber bestehen. Und es gilt als sicher, dass sie zum Jahreswechsel wieder steigen. „Die Tarifanpassung ist aufgrund starker Preiserhöhungen in den Bereichen Energie, Personal und Material notwendig. Wir brauchen die Tarifstruktur zudem als Abrechnungsbasis für das Deutschlandticket mit Bund und Ländern“, so Castrillo. Bisherige Tarifbeschlüsse in Deutschland liegen laut dem VRR-Manager bei durchschnittlich zehn Prozent. Solch ein Preissprung wäre seit Bestehen des VRR einsamer Rekord. Doch selbst wenn der Schritt moderater ausfällt: Ohne das D-Ticket würde Bus- und Bahnfahren im Ruhrgebiet ab Januar so teuer wie noch nie werden.

Auch viele WAZ-Leserinnen und -Leser setzen weiter aufs eigene Auto, weil sie mit dem ÖPNV-Angebot im Ruhrgebiet sehr unzufrieden sind. Das zeigen die zahllosen Antworten auf einen Leser-Aufruf unserer Zeitung.