Essen. Der Verkehrsverbund meldet 145.000 neue Abo-Kunden durch das Deutschlandticket. Wachsen werde der ÖPNV dennoch eher mittelfristig.

Knapp zwei Wochen nach dem Start am 1. Mai hat sich das Deutschlandticket zu einem Verkaufsschlager im Nahverkehr entwickelt. Allein innerhalb des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) wurde das bundesweit gültig Ticket an 145.000 Neukunden verkauft. Hinzukommen Hunderttausende Fahrgäste, die ihr bislang gültiges VRR-Abo auf das 49 Euro teure Ticket haben umschreiben lassen. Die Umwandlungsquote liegt nach VRR-Angaben bei 95 Prozent.

"Das Deutschlandticket ist ein großer Wurf"

Dennoch dämpft der VRR die Erwartungen auf eine schnelle Wirkung des neue ÖPNV-Einheitstarifs bei der Wahl des Verkehrsmittels. „Das Deutschlandticket wird gerade von vielen zu Recht euphorisch gefeiert. Es ist ein historisches Projekt, ein großer Wurf im deutschen Nahverkehr, um den uns viele europäische Nachbarn beneiden. Wir gewinnen durch das neue Ticket auch auf jeden Fall neue Kunden hinzu“, sagte VRR-Vorstandsmitglied José Luis Castrillo der WAZ. Es dürfe aber nicht der Eindruck entstehen, als würde sich das Mobilitätsverhalten der Menschen jetzt sprunghaft verändern, betonte er.

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20.000 bis 25.000 echte ÖPNV-Neulinge

„Aktuell können wir auf Basis von Umfragen davon ausgehen, dass unter den 145.000 neuen Abonnentinnen und Abonnenten des Deutschlandtickets im VRR 20.000 bis 25.000 echte ÖPNV-Neulinge sind“, so Castrillo. Die große Mehrzahl der neuen Abonnenten habe schon vorher Busse und Bahnen genutzt, wenn auch nicht mit einer Dauerkarte.

Ticket hilft zunächst, auf die Vor-Corona-Auslastung zu kommen

Castrillo verwies unter anderem auf Monatskarteninhaber, die ihr Ticket bislang nicht im Abo bezogen. Davon allein wurden nach VRR-Angaben in einem durchschnittlichen Monat rund 100.000 Stück verkauft. Hinzu kommen 350.000 Vierer-Ticket-Käufer. Auch sie sind nach VRR-Einschätzung potenzielle Deutschlandticket-Kunden. „Wir werden eher mittelfristig wachsen“, sagte Castrillo. Zunächst werde das Ticket helfen, wieder auf die alten Fahrgastzahlen aus der Vor-Corona-Zeit zu kommen. Sorgen vor einer Überlastung im Nah- und Regionalverkehr hält er für derzeit unbegründet.

Mittelfristig wird das 49-Euro-Ticket wohl teurer

Mit Blick auf den Preis des neuen Tarifs, der inoffiziell lange 49-Euro-Ticket hieß, müssen sich ÖPNV-Kunden zumindest mittelfristig wohl auf eine Steigerung einstellen. Konkrete Pläne dazu gibt es derzeit nicht. Verantwortlich für die Preisfindung sind ohnehin Bund und Länder. „Wir sollten nicht in dieselbe Falle laufen wie die Stadt Wien, die sich mit Preisanpassungen ihres vor Jahren eingeführten 365-Euro-Tickets schwertut. Der Ticketpreis sollte sich dynamisch an der Entwicklung der Inflation orientieren“, rät Castrillo. Er erinnert an die jüngsten Tarifabschlüsse, die bei den Verkehrsbetrieben ab 2023 zu sechs Prozent höheren Personalkosten führen werde. Die Liquidität der Unternehmen dürfe nicht gefährdet werden.

VRR sieht Bund und Länder bei der Finanzierung auch über 2023 hinaus in der Pflicht

Aus Sicht des VRR muss die Finanzierungssystematik des Deutschlandtickets durch Bund und Länder einschließlich der Nachschusspflicht auch über die Vereinbarungen für das Jahr 2023 hinaus bestehen bleiben. "Sollte eine Finanzierungslücke bestehen bleiben, können die Kommunen das Risiko nicht ausgleichen“, so Castrillo.

Digitalisierungsschub durch das Deutschlandticket

Das Deutschlandticket hat im Öffentlichen Nahverkehr der Region zudem einen kleinen Digitalisierungsschub ausgelöst, der allerdings nicht alle Erwartungen erfüllt. „In den ersten vier Verkaufswochen haben rund 145.000 Kunden, die in der Vergangenheit noch kein Abonnement hatten, ein Deutschlandticketgekauft – knapp 30 Prozent davon rein digital“, sagte Castrillo. Im Vergleich zu anderen E-Ticket-Angeboten sei der digitale Anteil eine ganz klare Steigerung.

Kunden fragen mehrheitlich nach der Chipkarte

Der Löwenanteil der Tickets ging allerdings als traditionelle Chipkarte über die Ladentheke der Kundencenter oder wurde auf Bestellung verschickt. Die Nachfrage nach der Kartenversion war so groß, dass an vielen Ticketcentern der Region sich in den Tagen um den Start des Tickets am 1. Mai lange Schlangen bildeten. „Wir wollen beim ÖPNV die Chancen der Digitalisierung nutzen, erkennen aber auch, dass viele unserer Kunden die Chipkarte wollen. Daher arbeiten wir nicht am Markt vorbei“, sagte Castrillo.

Vor allem Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte das Deutschlandticket ursprünglich in rein digitaler Form eingefordert, musste aber schnell erkennen, dass die Umsetzung an den oft beklagten Grenzen der Digitalisierung in Deutschland scheitern würde.

Schub durch Berufspendler erwartet

Einen weiteren deutlichen Schub fürs Deutschlandticket erwartet Castrillo durch Berufspendler. Bund und Länder hatten sich darauf geeinigt, den Deutschlandtarif auch als Jobticket anzubieten. Wenn Arbeitgeber mindestens 25 Prozent der Kosten des Jobtickets übernehmen, gibt der Staat nochmals einen Abschlag von fünf Prozent dazu. Das Deutschlandticket wird dadurch um bis zu 30 Prozent billiger. „Wir werben ausdrücklich dafür, dass möglichst viele Arbeitgeber und auch der öffentliche Dienst von diesem Angebot reichlich Gebrauch machen“, sagte Castrillo.

Lösungen für Schüler, Studierende und beim Sozialticket in Sicht

Der VRR-Manager stellte zudem eine baldige Lösungen für Studierende, Schülerinnen und Schüler sowie sozial benachteiligte Gruppen in Aussicht, für die es schon jetzt ermäßigte ÖPNV-Tarife gibt. In diesen drei Bereichen gehe es darum, „die Errungenschaften des Solidarmodells zu erhalten und die öffentlichen Zuschüsse zu sichern“, betonte Castrillo. Für Studierende gibt es bereits eine Übergangslösung mit einem Upgrade auf das NRW-weite Semesterticket. Sollte es keine Einigung von Bund und Ländern zur Finanzierung eines bundesweiten Semestertickets geben, wird zumindest ein eigenes Modell für NRW angestrebt. Auch im Falle des bei Schülerinnen und Schülern so beliebten Schokotickets sowie beim Sozialticket für Bedürftige zeichne sich in NRW eine bundesweit gültige Modellvariante ab. Die Umsetzung könne dann aber noch etwas dauern.