Düsseldorf. Eine bittere Bilanz ihrer Jahre am Berufskolleg zieht Silvia Steinberg: Vielen Schülern fehle Basiswissen, die Politik vernachlässige Bildung.
Silvia Steinberg (64), Lehrerin für BWL, Kaufmännisches Rechnen, Deutsch, Politik und Qualitätsmanagement am Berufskolleg Witten. Seit wenigen Tagen ist sie im Ruhestand und zieht eine eher bittere Bilanz ihrer Berufsjahre. Es sei ein guter Zeitpunkt, die Schule zu verlassen, sagt sie:
„Das Schuljahr 2022/23 war mein letztes im Schuldienst. Am Mittwoch wurde ich verabschiedet. Das letzte Jahr war für mich sehr anstrengend und ich dachte zwischendurch, gut, dass es bald vorbei ist. Aber als ich im Kalender sah, dass dies mein letzter Monat in der Schule ist, fühlte sich das doch komisch an. Ich weiß noch nicht so richtig, was jetzt auf mich zukommt.
Dieses Schuljahr war stressig, weil Lehrkräfte generell immer mehr Verwaltungsaufgaben übernehmen müssen und ich leider im dualen Ausbildungssystem erlebe, dass viele Schüler:innen nicht mehr das Bewusstsein für Schule haben. Wenn sie keine Lust haben auf Unterricht, dann kommen sie nicht.
Wenn sie keine Lust haben, kommen sie nicht
Ich habe mich stets sehr darum bemüht, dass Auszubildende regelmäßig zur Schule kommen, dass sie ihre (gelegentlichen) Hausaufgaben machen. Aber bis auf eine Handvoll Schüler:innen ist vielen das heute nicht mehr so wichtig, und das macht es sehr anstrengend. Man muss in jeder Stunde mit dem Stoff fast wieder von vorne anfangen.
Vielen Schülern fehlt leider der Anreiz, Leistung zu zeigen, auf ein Ziel zuzuarbeiten. Eigentlich ist es vielen letztendlich egal, ob sie jetzt einen Abschluss machen oder ein halbes Jahr länger zur Schule gehen, ob sie gute Noten haben oder nicht. Ich hätte mich früher für eine Fünf geschämt. Vielleicht liegt es daran, dass es den Auszubildenden/Schülern zu leicht gemacht wird. Abschlüsse werden ihnen fast „hinterhergeworfen“ und sie bekommen häufig zu gute Noten.
Drei Wünsche fürs neue Schuljahr: So könnte Schule besser laufen
- Der Abiturient: Gestresste Lehrer sind kein gutes Vorbild für uns
- Der Junglehrer: Die Politik muss mehr Mut beim Thema Schule haben
- Die ehemalige Lehrerin: Vielen Schülern fehlt Anreiz, Leistung zu zeigen
Viele Auszubildende haben auch kein Interesse an guten Angeboten, die das Berufskolleg ihnen macht. Ein Kollege und ich haben mit Unterstützung der Kolping-Bildungszentren Ruhr gem. GmbH einer Unterstufenklasse im dualen System zum Beispiel einen Berufssprachkurs angeboten. Der Kurs kam nicht zustande, weil die Auszubildenden, bei denen wir Förderbedarf dringend für notwendig hielten, sagten, dass sie das nicht bräuchten oder in ihrer Freizeit keinen Kurs belegen möchten.
70 Prozent können nicht richtig lesen
Klausuren, die ich vor 10 oder 20 Jahren gestellt habe, könnte ich heute nicht mehr stellen. Selbst das einfache Reproduzieren von Wissen funktioniert nicht mehr. In den Grund- und weiterführenden Schulen wird zu wenig auf die Vermittlung von Basiswissen (Grundrechenarten, Grammatik, Rechtschreibung) geachtet. Ich habe das Gefühl, dass z. B. keine Gedichte oder Lieder mehr auswendig gelernt werden, denn wenn Schüler:innen in meinen Klassen eine Definition, die nur aus zwei Sätzen besteht, auswendig lernen sollen, dann gelingt das vielen nicht.
Etwa 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler können nicht richtig lesen. Sie können vielleicht Wörter vorlesen, aber sie verstehen den Satz nicht. Und wenn es um einfache Berechnungen im kaufmännischen Leben geht, ist das buchstäblich eine Katastrophe.
Politik weiß nicht, wie die Schüler ticken
Die Bildungspolitik in NRW ist jahrzehntelang vernachlässigt worden. Die Entscheider in der Politik sind zu weit entfernt von der Basis in den Schulen, egal wie oft sie auch betonen, es nicht zu sein. Sie wissen nicht, wie unsere Schüler:innen ticken.
Ich würde der Schulministerin raten: Holen Sie sich Lehrer:innen aus verschiedenen Schulen und unterschiedlichen Schulformen an ihren Tisch: Pädagogen, die an der Basis arbeiten. Es ist ein guter Zeitpunkt, um die Schule zu verlassen. Wenn ich den Anspruch habe, den Schülern etwas beizubringen, und merke, dass ich das nicht mehr schaffe, dann sollen sich andere mit neuen Konzepten daran versuchen.“