Kiew. Der ukrainische Parlamentspräsident Stefantschuk über den langen Krieg, die Stimmung der Bevölkerung und was er von Deutschland erwartet.

Ruslan Stefantschuk ist seit 2021 Präsident der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments. Der 49-jährige Jurist gilt als einer der Chefideologen der Regierungspartei „Diener des Volkes“ und als ein enger Berater des ukrainischen Präsidenten. In der protokollarischen Rangfolge steht er gleich hinter dem Staatspräsidenten. Wir haben Stefantschuk in einem Nebengebäude des Parlaments in Kiew getroffen. In dem Interview, das aus Sicherheitsgründen in einem bombensicheren Untergeschoss stattfand, erzählt Stefantschuk, wie es um die Moral der ukrainischen Bevölkerung drei Jahre nach Kriegsbeginn bestellt ist und was er sich von den anstehenden Bundestagswahlen erwartet.

Herr Stefantschuk, seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind fast drei Jahre vergangen. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung nach drei Jahren Krieg?

Ruslan Stefantschuk: Es stimmt, dass Russland vor drei Jahren eine groß angelegte Invasion gestartet hat. Aber der Krieg in der Ukraine dauert schon seit elf Jahren an. Das ist eine lange Zeit, und natürlich ist die gesamte Bevölkerung der Ukraine davon betroffen. Aber trotz der Länge des Krieges steht die Ukraine, die Ukraine kämpft und die Ukraine schlägt die Invasion zurück. Die staatlichen Strukturen funktionieren, die internationale Unterstützung hält an, und die Ukraine ist immer noch ein unabhängiger Staat.

Im vergangenen Jahr konnten die russischen Streitkräfte jedoch viele taktische Gebietsgewinne im Donbass erzielen. Wie hat sich dies auf die Moral der Bevölkerung ausgewirkt?

Stefantschuk: Ich spüre keinen Rückgang der Moral. Trotz der taktischen Erfolge der russischen Streitkräfte gibt es keine massive Flucht der Bevölkerung. Die Bevölkerung nimmt die Situation nicht als katastrophal wahr. Die Menschen unterstützen weiterhin die ukrainischen Streitkräfte. In den letzten drei Jahren ist sich die ukrainische Bevölkerung über das Ausmaß der Bedrohung und darüber, was getan werden muss, um sich vor dieser Bedrohung zu schützen, sehr klar geworden.

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Auf der anderen Seite beklagen die Streitkräfte einen eklatanten Personalmangel. Es gibt erhebliche Probleme bei der Rekrutierung neuer Soldaten. Was muss getan werden?

Stefantschuk: Die Werchowna Rada hat das Mobilisierungsgesetz geändert, um es gerechter zu gestalten. Die Verteidigung des Landes ist eine verfassungsmäßige Pflicht für jeden ukrainischen Bürger. Ich kann Ihnen versichern, dass wir keine katastrophalen Probleme mit der Mobilisierung haben. Aber wir werden uns jetzt darauf konzentrieren, die Bürger noch mehr zu motivieren, ihr Land zu verteidigen.

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Wie wollen Sie die Menschen motivieren? Es gibt immer mehr Berichte über Massendesertionen, und die Zahl der Deserteure nimmt zu. Wie wollen Sie die Moral heben?

Stefantschuk: Wir befinden uns im Krieg. Wenn jemand sagt, er habe keine Angst vor dem Krieg, dann lügt er. Die Ukraine ist ein demokratischer Staat. Wir werden nicht, wie Russland, Soldaten hinter der Frontlinie einsetzen, um auf jeden zu schießen, der bei Angriffen wegläuft. Das Parlament hat Gesetze verabschiedet. Deserteure, die zu ihren Einheiten zurückkehren, bleiben straffrei. Viele haben ihren Fehler eingesehen und kehren nun an die Front zurück. Aber wir können die Menschen nicht dazu zwingen.

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Drei Jahre Invasion sind auch drei Jahre Kriegsrecht. Wie ist es um die Demokratie in der Ukraine bestellt?

Stefantschuk: Jeder Krieg beeinträchtigt die Demokratie. Ein Krieg ist wie eine Infektion. Die Gesellschaft ist wie ein Organismus. Wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, tötet die Infektion den Organismus ab. Wir versuchen, dies im Rahmen der Verfassung zu verhindern. Aber es gibt eine Reihe von Rechten in unserer Verfassung, die in Kriegszeiten eingeschränkt werden können. Das haben wir bei einigen von ihnen getan, um mobilisieren und gegen Russland kämpfen zu können.

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Haben die Menschen in der Ukraine Vertrauen in die Demokratie?

Stefantschuk: Die Menschen kämpfen für die Demokratie und die demokratischen Werte. Dafür zahlen sie den höchsten Preis. Sie bezahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben.

Letztes Jahr standen in der Ukraine die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Wie wichtig sind die Neuwahlen?

Stefantschuk: Nicht alle Wahlen sind ein Ausdruck von Demokratie. Es gab Wahlen in Russland oder Weißrussland. Sie waren nicht demokratisch. Für die Ukraine ist es wichtig, dass die Wahlen nach demokratischen Standards stattfinden, die von unseren internationalen Partnern anerkannt werden. Nach der ukrainischen Verfassung können während des Kriegsrechts keine Wahlen abgehalten werden. Dies ist keine Ausnahme. Auch das deutsche Grundgesetz verbietet Wahlen in Kriegszeiten.

Warum sollten in Kriegszeiten keine Wahlen abgehalten werden?

Stefantschuk: Diejenigen, die an der Front stehen und unsere Souveränität verteidigen, sollten wählen dürfen. Andernfalls werden die Wahlen nicht fair sein. Das ist unmöglich. Millionen von Ukrainern sind jetzt außerhalb des Landes. Andere Ukrainer leben in den besetzten Gebieten. Auch sie haben das Recht, ihre Stimme abzugeben. Und es können keine internationalen Wahlbeobachter in das Land kommen. Wenn das Kriegsrecht endet, wird es Neuwahlen geben.

Interview Ruslan Stefantschuk
Ruslan Stefantschuk: Nach der ukrainischen Verfassung können während des Kriegsrechts keine Wahlen abgehalten werden. © Vadym Sarakhan | VADYM SARAKHAN

In Gesprächen mit Soldaten an der Front, aber auch mit Zivilisten ist eine wachsende Unzufriedenheit mit der Regierung zu spüren. Wie gefährlich ist diese Entwicklung?

Stefantschuk: Bisher haben die Russen noch keine Mittel gefunden, um die Einheit der Ukrainer zu brechen. Aber Russland versucht, diese Einigkeit zu zerstören, indem es Desinformationen und Propaganda zu sensiblen Themen wie Mobilisierung oder Evakuierung verbreitet. Diejenigen, die drei Jahre lang an der Front gekämpft haben, sind erschöpft. Und sie haben jedes Recht, Kritik zu üben. Aber ich kann Ihnen versichern, dass der Präsident, die Regierung und das Parlament alles tun, um diesen Krieg zu gewinnen.

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Die Korruption wird häufig als eines der größten Hindernisse für die Finanzierung des Aufschwungs in der Ukraine genannt. Tut die Regierung genug, um die Korruption zu bekämpfen?

Stefantschuk: Was der Präsident, die Regierung und das Parlament im Kampf gegen die Korruption getan haben, ist unübertroffen. Wir haben im Parlament alle notwendigen Gesetze verabschiedet und Institutionen zur Korruptionsbekämpfung geschaffen. Es ist sehr schwierig, den Ruf eines korrupten Landes loszuwerden. Aber wir haben Maßnahmen ergriffen, die wir unserer Gesellschaft und unseren internationalen Partnern präsentieren können.

Welche Maßnahmen sind das zum Beispiel?

Stefantschuk: Vor einigen Jahren war es noch unvorstellbar, dass einer der einflussreichsten Oligarchen des Landes inhaftiert oder der Oberste Richter des Obersten Gerichtshofs bei der Annahme von Bestechungsgeldern erwischt werden würde. Man konnte sich nicht vorstellen, dass Minister oder ihre Stellvertreter allein aufgrund von Korruptionsvorwürfen entlassen werden würden. Die Ukraine im Jahr 2025 und die Ukraine im Jahr 2015 sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Heißt das, dass es keine Korruption mehr gibt?

Stefantschuk: Natürlich gibt es Leute, die die schwierige Situation im Land ausnutzen, um sich zu bereichern. Es ist unsere Pflicht, diese Leute zu finden und zu bestrafen. Das Wichtigste, was wir in den letzten drei Jahren gewonnen haben, sind nicht F-16 oder Patriot-Systeme, sondern das Vertrauen unserer Partner. Das wollen wir bewahren.

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    Am 23. Februar finden die Wahlen in Deutschland statt. Linke und rechte Parteien, die Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnen und als russlandfreundlich gelten, könnten Stimmen gewinnen. Sind Sie darüber besorgt?

    Stefantschuk: Die Unterstützung für die Ukraine sollte keine einseitige Entscheidung sein. Es geht um das Überleben von Europa. In den letzten Jahren haben wir versucht, mit allen wichtigen politischen Kräften in Deutschland in einen Dialog zu treten. Ich habe ein gutes Verhältnis zur Bundestagspräsidentin, Bärbel Bas. Wir stehen in einem ständigen Dialog über die Unterstützung der Ukraine. Im Dezember habe ich mich mit Friedrich Merz getroffen. Ich weiß, dass das deutsche Volk die Ukraine unterstützen will, und dafür bin ich sehr dankbar. Alle politischen Kräfte, ob in der Regierung oder in der Opposition, müssen die Meinung der Menschen berücksichtigen. Wenn sie das nicht tun und die politischen Kräfte, die gegen die Unterstützung der Ukraine sind, stärker werden, werden sie bald ihr eigenes Territorium gegen eine russische Invasion verteidigen müssen.

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    Donald Trump ist erneut Präsident der Vereinigten Staaten geworden. Er hat angekündigt, dass er seine Unterstützung für die Ukraine reduzieren wird. Was erwarten Sie von seiner Präsidentschaft?

    Stefantschuk: Es ist für uns offensichtlich, dass die neue Regierung neue Ansätze in der Geopolitik verfolgt. Vor seiner Wahl sagte Trump, er werde Russland dazu zwingen, den Krieg zu beenden. Das hat ihm geholfen, die Wahl zu gewinnen. Ich hoffe, dass sich diese Aussagen bewahrheiten werden. Wir unterstützen auch die Position, den Frieden mit Stärke zu erzwingen. Dies ist die einzige Sprache, die Russland versteht. Ich werde weiterhin gute Beziehungen zum Kongress und zum Senat pflegen.

    Einer der ersten offiziellen Schritte Trumps war das Einfrieren der Auslandshilfe der US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID). Welche Auswirkungen wird dies auf die Ukraine haben?

    Stefantschuk: Dies ist eine interne Entscheidung der USA. Die Agentur unterstützt Projekte in der ganzen Welt. Die Überprüfung der Unterstützung könnte wichtig sein. Ich hoffe aber, dass die USA weiterhin wichtige Projekte unterstützen werden. Für die Ukraine ist es sehr wichtig, dass Projekte von Organisationen finanziert werden, die Veteranen helfen, sich am Wiederaufbau des Landes beteiligen oder psychologische Unterstützung leisten.

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    Putin sagt, wenn es zu Friedensgesprächen kommt, werde er nicht mit Präsident Selenskyj sprechen, sondern nur mit dem Parlamentspräsidenten – also mit Ihnen. Selenskyj habe hat keine Legitimation, weil seine Amtszeit abgelaufen ist. Was werden Sie ihm sagen?

    Stefantschuk: Nach den Gesetzen der Ukraine war und ist Wolodymyr Selenskyj der Präsident des Landes. Ob es ihm gefällt oder nicht, er muss mit dem ukrainischen Präsidenten über den Frieden sprechen. Solche Aussagen zeigen nur, dass Putin nicht bereit ist, diesen Krieg zu beenden. Der erste Schritt zur Beendigung dieses Krieges wäre der Abzug der russischen Truppen und die Behandlung von Fragen wie Reparationen auf diplomatischem Wege.

    Der Abzug der russischen Truppen ist also eine Vorbedingung für Friedensgespräche?

    Stefantschuk: Die territoriale Integrität der Ukraine, die Souveränität und Unabhängigkeit unseres Landes stehen nicht zur Debatte. Das wäre ein Verstoß gegen die Charta der Vereinten Nationen.

    Wird es dieses Jahr noch Frieden geben?

    Stefantschuk: Ich hoffe es.

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