Straßburg. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen stellt ein neues, buntes Team auf. Ein Italiener ist besonders umstritten.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steht in ihrer zweiten Amtszeit vor einer radikalen Kehrtwende: Im EU-Parlament kündigte die 66-Jährige an, in den nächsten fünf Jahren vor allem auf Wirtschaftsthemen zu setzen: Als erste große Initiative werde die Kommission eine Strategie für mehr Wettbewerbsfähigkeit Europas vorlegen, auch einen Vorstoß für niedrigere Energiepreise werde es geben. Die Zukunft der Autoindustrie werde sie zur Chefsache machen, sagte die Christdemokratin in ihrer Rede im EU-Parlament zur Vorstellung der neuen Kommission. Wenig später wurden von der Leyen und ihr Team von 26 Kommissarinnen und Kommissaren vom Parlament mit deutlicher Mehrheit bestätigt. Von 688 Abgeordneten stimmten 370 für die Kommission, vor allem von den Christdemokraten, großen Teilen der Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen – und den Abgeordneten der postfaschistischen Brüder Italiens.
Das Team, zu dem sechs Vizepräsidenten gehören, startet am 1. Dezember für eine Amtszeit von fünf Jahren. Wer sind die interessantesten Kommissare? Im grellen Scheinwerferlicht, weil besonders umstritten, steht der Italiener Raffaele Fitto: Mit ihm bekommt erstmals ein Rechtsaußen-Politiker einen Top-Job an der Spitze der Brüsseler Behörde. Fitto gehört der postfaschistischen Partei Brüder Italiens an, ist in Rom auch Giorgia Melonis Europaminister – künftig verantwortet er als Vizepräsident milliardenschwere Regional-Fördertöpfe, von denen Italien besonders profitiert, und ist für Reformen zuständig.
An der fachlichen Eignung des früheren Christdemokraten wird nicht gezweifelt, doch Parteien links der christdemokratischen EVP protestierten gegen den Schnellaufstieg zum Vizepräsidenten und drohten mit Ablehnung des Personalpakets. Eine neue Kooperationsvereinbarung mit der EVP konnte den Konflikt zwar notdürftig befrieden, deutsche SPD-Abgeordnete verweigerten dennoch die Zustimmung zur Kommission, ebenso wie Teile der Grünen-Fraktion. Eine Misstrauenserklärung auch an Leyen, die vorher ankündigte, sie wolle im Schulterschluss „von der politischen Mitte agieren“.
Große Erwartungen richten sich an Kaja Kallas, die neue EU-Außenbeauftragte, die auch die Sicherheitspolitik verantwortet. Die 47-jährige Liberale war bis zum Sommer Estlands erste Ministerpräsidentin, ihr Vater war Regierungschef und EU-Kommissar. Die Juristin setzt sich in der EU massiv für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine und für stärkere Verteidigungsanstrengungen ein. Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seit Februar mit Haftbefehl nach Kallas fahnden, weil sie Denkmäler für sowjetische Soldaten abreißen ließ. Sie ist die erste westliche Top-Politikerin auf Russlands Fahndungsliste, was ihren Aktionsradius etwas einschränken wird.
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Eine Schlüsselrolle wird die Spanierin Teresa Ribera als Vizepräsidentin spielen: Von der Leyen beauftragt die 61-jährige Sozialdemokratin nicht nur mit der Umsetzung des umstrittenen Green Deal zum ökologischen Umbau Europas, sondern auch mit der machtvollen Wettbewerbsaufsicht. Von der Leyens Christdemokraten in der EVP-Fraktion ist sie damit ein Dorn im Auge – fast hätten sie Ribera verhindert, sie warfen der bisherigen Umweltministerin Spaniens eine Mitverantwortung für das Behördenversagen bei den katastrophalen Überschwemmungen in der Region Valencia vor.
Den schlechtesten Start im Team hat der Ungar Olivér Várhelyi: Der hat als bisheriger Erweiterungskommissar viele Abgeordnete verärgert, seine Bestätigung war lange ungewiss. Erst wurde Varhelyi auf den mangels Kompetenzen unwichtigen Posten für Gesundheit und Tierschutz abgeschoben, dann wurden ihm kurzfristig noch Aufgaben entzogen – der Vertraute von Ungarns Premier Viktor Orban ist der Verlierer und unbeliebte Außenseiter im Team.
Eine Pionieraufgabe übernimmt der Litauer Andrius Kubilius: Er ist der erste Verteidigungskommissar der EU, schon in den ersten hundert Tagen soll er eine Strategie zur Sicherheit Europas vorlegen. Kubilius fordert deutlich höheren Investitionen in die Verteidigung Europas. Nach Geheimdiensterkenntnissen könnte „Russland die Entschlossenheit der EU oder der Nato bis zum Ende des Jahrzehnts testen“.
Misstrauen schlägt dem Liberalen Stéphane Séjourné im Amt des Vizepräsidenten für Industriepolitik und Binnenmarkt entgegen: Der Franzose, ehemaliger Kurzzeit-Außenminister, ist ein enger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron und gilt als dessen verlängerter Arm in Brüssel – das dürfte manche Gegner auf den Plan locken. Das erste Signal gab von der Leyen gleich selbst: Sie kündigte an, sie werde sich persönlich um die Krise der Autoindustrie kümmern und dies zu einem Schwerpunkt ihrer Amtszeit zu machen. Sie, nicht Séjourné, wird einen strategischen Dialog zur Zukunft der Autobranche einberufen und persönlich leiten. „Die europäische Automobilindustrie ist ein Stolz Europas“, sagte von der Leyen, „Millionen von Arbeitsplätzen hängen von ihr ab.“