Berlin. Hunderttausende Kinder sind in Syrien vom „Islamischen Staat“ radikalisiert worden. So sollen sie in ein normales Leben zurückgeholt werden.

Der junge Mann setzt die Geige an und spielt ein trauriges, ruhiges Lied. Ilias Lammaghi und die anderen Jungs hören ihm zu. Vor nicht allzu langer Zeit wäre ihr Freund bestraft worden, weil das Spielen von Instrumenten verboten war in dem islamistischen Fiebertraum, aus dem sie langsam aufgewacht sind. Jetzt sitzen sie im Musikzimmer eines Containers, hinter dem die stacheldrahtbewehrte Mauer des Hori-Zentrums aufragt, umgeben von Lauten, Keyboards, Gitarren. In dem Zentrum versuchen säkulare Kurden den jungen Männern zu zeigen, dass es ein Leben jenseits des Terrorkalifats gibt, in das sie ihre Eltern vor zehn Jahren verschleppten.

Tel Marouf ist ein kleines, staubiges Dorf nicht weit entfernt von der türkischen Grenze in Nordostsyrien. Vor zehn Jahren wurde es kurze Zeit von der Al-Nusra-Front kontrolliert, dem seinerzeitigen syrischen Ableger der Al-Qaida. Kurdische Verteidigungskräfte vertrieben die Extremisten. Jene Verteidigungskräfte, die in den Jahren darauf in Syrien die Speerspitze des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ (IS) wurden, das Terrorkalifat zerschlugen und zum Militär einer Autonomieregion wurden, deren Selbstverwaltung heute ums Überleben kämpft.

Ruhige, traurige Klänge: Mit Musik sollen die radikalisierten Jugendlichen in ein normales Leben zurückgeführt werden.
Ruhige, traurige Klänge: Mit Musik sollen die radikalisierten Jugendlichen in ein normales Leben zurückgeführt werden. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ein Leben, in dem fast alles verboten gewesen ist

In Tel Marouf liegt ein Gebäude, das früher einmal prächtig anzuschauen gewesen sein muss, heute aber von grauen Mauern umgeben ist. Es ist eine alte Koranschule. Bewaffnete kontrollieren die Zufahrt, die mit einer Schranke versperrt ist. Auf den Mauern sind neben den Stacheldrahtrollen Videokameras angebracht. Ein großes Stahltor ist der einzige Eingang. Eingebettet in die Mauern liegt ein weinroter Ziegelbau, vier Trakte, in der Mitte eine Rasenfläche samt Brunnen. Wäsche trocknet auf Bänken. In den Zimmern stehen Doppelstockbetten. Auf einem Kunstrasenplatz spielen einige Jungs in der Gluthitze schwitzend Fußball.

„Wenn sie zu uns kommen, wollen sie kein Fußball spielen. Sie akzeptieren selbst solche einfachen Sachen nicht“, erklärt Dilgash Süleyman, der Leiter des Zentrums. „Diese Jungs haben die Ideologie des IS völlig verinnerlicht.“ In seiner Einrichtung versuchen sie, die Jugendlichen wieder an ein normales Leben zu gewöhnen. Ein Leben, in dem Fußball nicht „haram“ also verboten ist, in dem sie musizieren dürfen, in dem sie von Lehrerinnen in Englisch unterrichtet werden, in dem sie Schneidern lernen. Es ist eine Mammutaufgabe.

Der Deutsche Elias Lammaghi (21) vor dem Kunstrasenplatz in Tel Marouf.
Der Deutsche Elias Lammaghi (21) vor dem Kunstrasenplatz in Tel Marouf. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Viele Mütter gelten noch immer als überzeugt von den Wahnideen des IS

Als das Kalifat des „Islamischen Staats“ Anfang 2019 untergeht, geraten Zehntausende Angehörige von IS-Kämpfern in Nordostsyrien in Gefangenschaft. Die Behörden bringen sie in zwei ehemaligen Flüchtlingscamps unter, wo sie bis heute unter prekären Bedingungen leben. Die Lager sind „tickende Zeitbomben“, warnen die Kurden.

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Allein 30.000 Kinder sollen nach Angaben der Selbstverwaltung in den beiden Camps al-Hol und al-Roj untergebracht sein. Viele Mütter gelten noch immer als überzeugt von den Wahnideen des IS. Das Terrorkalifat ist untergegangen, aber noch immer sollen Tausende IS-Kämpfer in der Region operieren. „Der IS führt im Untergrund seine ideologische Arbeit weiter“, sagt Ilham Ahmad, eine der zwei Außenbeauftragten der Selbstverwaltung.

Der Vater im Gefängnis, der Bruder tot, Mutter und Brüder im Flüchtlingscamp

Ilias Lammaghi ist in Mainz aufgewachsen. Er ist Deutscher, seine Eltern haben marokkanische Wurzeln. 2014 schließen sie sich dem IS an und nehmen den damals Elfjährigen und seine jüngeren Geschwister mit nach Syrien. Sie leben in Manbidsch, in der syrischen IS-Hautstadt Rakka, in Deir-az-Zor. „Das war ein normales Leben, ich war nur zu Hause“, behauptet Lammaghi. Als das Terrorkalifat untergeht, landet sein Vater im Gefängnis, ein jüngerer Bruder stirbt, der Rest der Familie wird ins Camp al-Hol gebracht. Seit 2021 ist der junge Mann im Zentrum in Tel Marouf.

Es ist hier besser und komfortabler als in den stickigen Zelten in al-Hol, aber glücklich ist der junge Mann im Zentrum nicht: „Ich mag diese Situation hier nicht. Ich will nach Deutschland zurück.“ Seine drei überlebenden Brüder und seine Mutter sind noch in al-Hol, die erzwungene Trennung von ihr sei schlimm gewesen, sagt Lammaghi. Die Zwangstrennungen männlicher Jugendlicher von ihren Müttern werden von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Aber aus Sicht der Selbstverwaltung tragen sie zur Entschärfung einer Sicherheitssituation bei, die für die Region immer prekärer wird. Manche Kinder werden in den Camps gehirngewaschen. „Ihre Mütter ziehen sie groß, damit sie Menschen köpfen“, sagt die Außenbeauftragte Ahmad.

Über Politik oder Religion darf nicht gesprochen werden

Lammaghi darf alle zwei Monate mit seiner Mutter telefonieren, an manchen Feiertagen kann er sie sehen. Aufseher achten dann darauf, dass sie nicht über Politik oder Religion sprechen. Er ist jetzt 21 Jahre alt, eine Perspektive hat er nicht. „Ich verstehe nicht, warum die deutsche Regierung mich nicht nach Hause holt. Ich will nach Mainz. Ich will ein normales Leben“, sagt er. Zumal er mit der Ideologie seiner Eltern nichts mehr zu tun habe und sie strikt ablehne.

Bislang hat die Bundesregierung nach eigenen Angaben 80 Kinder und einen Heranwachsenden zusammen mit 27 Frauen aus Nordostsyrien zurück nach Deutschland geholt. Eine „niedrige zweistellige Zahl“ deutscher Angehöriger von IS-Kämpfern soll noch in der Region sein, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Ilias Lammaghi gehört dazu.

Wohin mit den jungen Männern?

Das Schicksal von Lammaghi zeigt auch das Dilemma, vor dem die Selbstverwaltung in Nordostsyrien steht. Aus Jugendlichen werden junge Männer und eigentlich müsste ihre Zeit in dem Zentrum irgendwann vorbei sein. Aber wohin mit ihnen? Die meisten sind Ausländer aus insgesamt 17 verschiedenen Staaten. „Wenn sie nicht von ihren Heimatländern repatriiert werden, müssen wir sie hierbehalten“, erklärt Dilgash Süleyman, der Leiter des Zentrums.

In die Camps oder gar die Gefängnisse könne man sie nicht bringen, weil dann sämtliche Deradikalisierungs-Bemühungen zunichte gemacht werden könnten. „Wir brauchen eigentlich eine neue Einrichtung für die Älteren.“ Die Kurden haben bislang nur zwei Einrichtungen wie das Hori-Zentrum. Angesichts der gewaltigen Zahl von IS-Kindern viel zu wenig.

Auf den Spuren des IS in Nordostsyrien.
Auf den Spuren des IS in Nordostsyrien. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Ursachen der Radikalisierung bekämpfen

Die Regierenden in Nordostsyrien drängen auf mehr internationale Hilfe: „Die Unterstützung sollte weit über finanzielle Mittel hinausgehen und Materialien für Bildung, Trainingsprogramme sowie Ressourcen zum Aufbau von Infrastruktur umfassen“, fordert Khaled Davrisch, Sprecher des Berliner Büros der Selbstverwaltung. So ließen sich die Ursachen von Radikalisierung besser bekämpfen, was zur Stabilisierung der Region beitragen werde.

In einem anderen Raum des Zentrums in Tel Marouf stehen mehrere Nähmaschinen. Ilias Lammaghi setzt sich an eine der Maschinen, bedient sie routiniert. Eigentlich, sagt er, liege ihm die Schneiderei nicht, er wolle lieber Medizin studieren. „Aber manche der Sachen, die ich nähe, gehen an meine Familie in al-Hol.“ Er lächelt, hinter seiner Brille blitzt in seinen Augen Stolz auf.

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