Al-Hasaka. Er kämpfte für den IS, soll schwerste Verbrechen begangen haben. Nun sitzt Martin Lemke in Syrien im Gefängnis. Dort will man ihn loswerden.

  • Der Terrorist Martin Lemke stammt aus Sachsen-Anhalt
  • Er schloss sich der islamistischen Terrorgruppe Islamischer Staat an
  • Dabei soll er schwerste Verbrechen begangen haben
  • Nun sitzt er in Syrien im Knast, bewacht von den Demokratischen Streitkräften Syriens (SDF)
  • Dabei will das Land ihn dringend loswerden
  • Nur: Internationale Hilfe bekommt es dabei nicht

Sicherheitskräfte führen den großen, schlaksigen Mann in den Container hinein. Seine Augen sind verbunden, die Hände gefesselt. Auf der kleinen Treppe kommt Martin Lemke ins Straucheln. Drinnen lösen sie die Handfesseln, nehmen ihm die Binde ab. Er setzt sich auf ein Sofa, hustet, sinkt in sich zusammen. Lemke, 33, ist vor fast zehn Jahren nach Syrien gekommen, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Seit fünfeinhalb Jahren ist er Gefangener der Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF). Er ist einer von 30 deutschen IS-Kämpfern in den Haftanstalten in Nordostsyrien. Seine Geschichte ist eine Erinnerung daran, wie die deutsche Regierung diejenigen im Stich lässt, die das Terrorkalifat zerschlagen haben, das von Menschen wie Lemke errichtet wurde.

Die Luft flirrt in der Spätsommerhitze über dem Asphalt der breiten Straßen von al-Hasaka. Graubraune Gebäude mit Flachdächern, viel Staub. In einem Kreisverkehr prangt eine gelb-rot-grüne Trikolore, das Symbol derjenigen, die seit 2016 in der Stadt das Sagen haben: Die Selbstverwaltung von Nordostsyrien ist ein Bündnis kurdischer, arabischer und christlicher Parteien, in dem die Kurden die federführende Rolle innehaben.

Deutscher Islamist soll schwerste Verbrechen begangen haben

Das Militär der Selbstverwaltung ist mit der US-geführten Anti-IS-Koalition verbündet und war in Syrien die Speerspitze des Kampfes gegen das Terrorkalifat. Als es 2019 in der Schlacht um Baghuz unterging, ergaben sich zehntausende IS-Kämpfer und ihre Angehörigen den Demokratischen Streitkräften Syriens. Sie wussten: Anders als im Irak oder in den vom syrischen Regime gehaltenen Gebieten droht ihnen in Nordostsyrien nicht die Todesstrafe. Für die Selbstverwaltung ist die große Zahl der Gefangenen eine enorme Belastung. Viele von ihnen gelten noch immer als gefährlich. Auch Martin Lemke. Er war einer der wichtigsten deutschen Kader des IS.

Lemke, der aus Zeitz in Sachsen-Anhalt stammt, schließt sich im November 2014 dem IS an. Er steigt in den Rängen der Terrortruppe rasch auf, arbeitet zuletzt in ihrem berüchtigten Geheimdienst Amnijat. Es gibt Berichte, wonach er in sozialen Medien mit der Enthauptung von Gefangenen prahlt. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass er eine jesidische Frau versklavt hat. Kurz vor dem Ende des Kalifats ergibt er sich im Januar 2019 den SDF.

Lemke bestreitet die Vorwürfe gegen ihn – und träumt noch immer vom Kalifat

Fast zehn Jahre nach seiner Ausreise sieht Lemke gesundheitlich angeschlagen aus. Der Zweimetermann ist spindeldürr, unter seinem braunen Overall ragen die Schulterknochen spitz hervor, die Wangen sind eingefallen. Unter den Augen von Bewachern erklärt er, was ihn bewogen hat, sich dem Islamischen Staat anzuschließen. „Ich wollte unter Muslimen leben.“ Ob er gefoltert oder gemordet hat? Lemke schaut auf. „Nein“, sagt er kurz und knapp. Er habe als Mitglied des IS-Geheimdienstes in den Gefängnissen nur technische Aufgaben erledigt oder Informationen eingeholt. Er habe nichts von Gräueltaten mitbekommen. Eine Jesidin habe er nie versklavt.

Generell, sagt Lemke, sei es eine falsche Entscheidung gewesen, nach Syrien auszureisen. „Ich habe meine Familie in Gefahr gebracht. Und es sind Dinge geschehen, mit denen ich nicht einverstanden bin.“ Damit meint er nicht die extreme Auslegung des Korans, nicht das brutale Vorgehen gegen Andersgläubige. Er meint interne Zwistigkeiten zwischen den Fanatikern, die er für das Scheitern des Terrorkalifats verantwortlich macht. „Es sind Tausende Mudschaheddin aus verschiedenen Kulturen zusammengekommen. Es gab viele Missverständnisse.“

Martin Lemke träumt offenbar noch immer vom Kalifat. „Die Muslime sollten ihr eigenes Land haben.“ Für ihn ist selbst Afghanistan kein islamisches Land. Ob er sich dem IS wieder anschließen würde, falls er aus dem Gefängnis komme oder befreit würde? „Das ist eine Fangfrage. Ich möchte mit Muslimen leben.“ Der Islamische Staat sei eine Botschaft an die ganze Welt gewesen.

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An den Wänden des Gefängnisses klaffen Einschusslöcher

Allein in der Haftanstalt in al-Hasaka sitzen 5000 ehemalige IS-Kämpfer. An den Fassaden der Gebäude des Gefängnisses klaffen Einschusslöcher. Vor zweieinhalb Jahren versuchten IS-Kämpfer das Gefängnis zu stürmen und ihre Gesinnungsgenossen zu befreien. Tagelang tobten Gefechte, Hunderte Menschen kamen ums Leben. Etlichen Gefangenen soll die Flucht gelungen sein. Die Gefahr ist noch immer nicht gebannt. In der Umgebung der Stadt gibt es viele Zellen des IS.

„Die Gefängnisse sind nicht dafür ausgelegt, so viele IS-Gefangene aufzunehmen. Sie liegen innerhalb von ziviler Infrastruktur. Es ist eine Bedrohung für unsere Bevölkerung“, sagt Fanar al-Gait, der Außenbeauftragte der Selbstverwaltung. Er wünscht sich von den Herkunftsländern der Terroristen Unterstützung bei der Unterbringung der Gefangenen und der Aufarbeitung ihrer Verbrechen.

Verschleierte muslimische Frauen in der syrischen Stadt Quameschli.
Verschleierte muslimische Frauen in der syrischen Stadt Quameschli. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

10.000 IS-Kämpfer sitzen in maroden Gefängnissen – „Niemand hilft uns“

„Die Menschen hier haben Angst vor diesen Leuten. Wir haben darum gebeten, dass neue, sicherere Gefängnisse gebaut werden. Aber niemand unterstützt uns“, klagt al-Gait. Insgesamt sitzen etwa 10.000 IS-Kämpfer in den maroden und völlig überfüllten Haftanstalten in Nordostsyrien, darunter zahlreiche Ausländer aus über 50 Nationen. Sie sind ohne Anklage und ohne Urteil inhaftiert. „Wir haben gebeten, ein internationales Tribunal einzurichten oder rechtlichen Beistand zu bekommen. Niemand hilft uns.“ Die Situation sei vergleichbar mit der Lage in Guantanamo, sagt al-Gait. Mit dem Unterschied, dass die Selbstverwaltung verzweifelt nach Lösungen für das Dilemma sucht.

Reporter Jan Jessen (links) mit Fanar al-Gait, dem Außenbeauftragten der Selbstverwaltung
Reporter Jan Jessen (links) mit Fanar al-Gait, dem Außenbeauftragten der Selbstverwaltung © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Tatsächlich machen es sich die ausländischen Regierungen leicht. Der Standpunkt der Bundesregierung lautet seit Jahren: Mangels offizieller Beziehungen sei es nicht möglich, Hilfe bei der Einrichtung eines Internationalen Tribunals zu leisten. Auch eine Unterstützung strafrechtlicher Verfahren sei nicht möglich, da es dafür keine rechtliche Grundlage gebe. Und: „Die Regierungen wollen ihre Staatsbürger nicht zurückhaben“, sagt al-Gait. Eine Bundesregierung, die syrische Gefährder abschieben will, weigert sich, deutsche Gefährder nach Deutschland zu holen.

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Der IS bleibt eine Inspirationsquelle für Fanatiker in Europa

„Wie lange sollen diese Leute bleiben? Wochen? Monate? Jahre?“, fragt der Außenbeauftragte. Er ist sicher: „Irgendwann werden sie zurückgehen.“ Aber Menschen, die jahrelang unter schlimmen Bedingungen inhaftiert werden, könnten dann noch radikaler sein, als sie es waren, als sie nach Syrien kamen. Zudem ist der IS in der Region noch immer nicht gänzlich besiegt, bleibt also eine Inspirationsquelle auch für Fanatiker in Europa. Die instabile Lage in Nordostsyrien ist auch eine Gefahr für Deutschland.

Der Attentäter von Solingen stammt aus Deir-az-Zor im Südosten der Autonomieregion. Martin Lemke, der deutsche IS-Mann im Gefängnis von al-Hasaka, sagt, es sei nicht richtig, wenn Zivilisten getötet würden. „Ich akzeptiere das nicht außerhalb des Islamischen Staats.“ Für sich sieht er kaum noch eine Perspektive. „Ich kämpfe jeden Tag. Wenn ich sterbe, wäre ich nicht der Erste. Wenn ich überlebe, will ich zu meiner Familie.“

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