Berlin. Der russische Präsident Wladimir Putin hält Diplomatie für eine Schwäche. Das heißt aber nicht, dass man darauf verzichten sollte.
Frieden, was sonst – nichts wünschen sich die Menschen in der Ukraine sehnlicher. Sie wollen endlich wieder schlafen, lachen, leben. Sie wollen ihre zerbombten Städte wieder aufbauen. Nirgendwo ist die Sehnsucht nach Frieden größer als in der Ukraine selbst. Es ist wichtig, das zu betonen. Denn manchmal wirkt es so, als stünde das infrage.
Seit Russland das Nachbarland überfallen hat, kämpfen die Ukrainer um ihre Freiheit. Sie kämpfen um das Recht, selbstbestimmt leben zu können, sie kämpfen um ihr Land. Sie stellen sich der Brutalität und dem Größenwahn ihres Nachbarn entgegen. Sie verteidigen sich. Auch das scheint inzwischen in Vergessenheit zu geraten. Dabei hat der Westen dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj mehr als einmal die volle Unterstützung zugesagt: „As long as it takes“ (so lange, wie es dauert). Doch diese Front bröckelt.
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Russlands Präsident Putin hat darauf gesetzt, dass im Laufe der Zeit bei den Verbündeten der Ukraine Kriegsmüdigkeit einsetzt. Irgendwann, so sein Kalkül, wird die Unterstützung für die Ukraine nachlassen, wird er bekommen, was er will.
Selenskyj ahnt das auch. Im November sind US-Präsidentschaftswahlen. Sollte er wieder ins Weiße Haus einziehen, will Donald Trump den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in einem Tag beenden. Man ahnt, was er meint.
Der Hintergrund: Putins Söhne leben in einer bizarren Parallelwelt
Auch Deutschland, der zweitwichtigste Verbündete der Ukraine, wackelt. Seit Sahra Wagenknecht mit ihren Friedensversprechungen bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen punkten konnte, wächst der Druck auf Olaf Scholz, weniger Waffen und mehr Diplomatie zu liefern. Im jüngsten Fernsehinterview sprach sich der Bundeskanzler für intensivere diplomatische Bemühungen um eine Beendigung des russischen Angriffskrieges aus. Er formulierte scholzoresk verklausuliert: „Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen, als das gegenwärtig den Eindruck macht.“
Seit Wochen wächst der Druck auf Selenskyj. Auf der nächsten Friedenskonferenz will er jetzt sogar mit Vertretern Russlands verhandeln. Das war vor wenigen Monaten noch undenkbar.
Ukraine-Krieg: Putin verachtet Schwächlinge
Doch wer erhöht den Druck auf Putin, der Diplomatie für eine Schwäche hält und Schwächlinge verachtet? Putin „befreit“ aus russischer Sicht gerade russisches Territorium, die im September 2022 annektierten Gebiete. Ein Verzicht auf Cherson, Saporischschja und die noch nicht eroberten Gebiete in Luhansk und Donezk würde ihm zu Hause als Schwäche ausgelegt. Kann er sich das leisten?
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Nicht nur Selenskyj ist überzeugt davon, dass der russische Präsident an Diplomatie kein Interesse hat, er will siegen. 30 Prozent der Ukraine will er sich einverleiben – da nutzt den Ukrainern auch das Stückchen Russland nicht, das sie in der Gegend von Kursk erobert haben.
Immer wieder haben die westlichen Verbündeten betont, dass die Ukraine allein Bedingungen und Zeitpunkt für Friedensgespräche bestimmt. Doch auch das scheint in Vergessenheit zu geraten. Die Ukraine ist zum Frieden bereit. Die Bedingungen sind klar formuliert: Abzug aller russischen Truppen aus allen Gebieten der Ukraine, einschließlich der Krim. Kiew verlangt außerdem russische Reparationszahlungen und will die Verantwortlichen des Krieges vor einem internationalen Gericht sehen. Ist das zu viel verlangt?
Eine Friedenslösung, die Putin zum Sieger machte, wäre eine gefährliche Scheinlösung. Sie würde die Missachtung von Grenzen, Aggression und Gewalt belohnen. Das kann, das darf nicht richtig sein.
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