Düsseldorf. Im NRW-Landtag wird das Attentat von Solingen aufgearbeitet. Offen bleibt auch danach: Wie hat sich der Tatverdächtige radikalisiert?
Sechs Tage nach dem blutigen Messer-Attentat von Solingen mit drei Todesopfern startete die parlamentarische Aufarbeitung des Terrorakts. Der Innen- und Integrationsausschuss des Düsseldorfer Landtags kam zu einer Sondersitzung zusammen. Im Zentrum der Aufarbeitung standen am Donnerstag die Behördenfehler im Verantwortungsbereich von Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne). Warum wurde nur ein Versuch unternommen, den späteren Attentäter abzuschieben? Der 26-jährige Syrer war ausreisepflichtig nach Bulgarien, wurde aber am 5. Juni 2023 nicht in der Landesunterkunft Paderborn aufgegriffen. Die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld unternahm auch später keinen Versuch mehr, ihn nach Sofia auszufliegen. Warum?
Unser Liveticker ist beendet - hier können Sie das Protokoll der Sitzung nachlesen:
16.30 Uhr: SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott fordert einen Sonderermittler, um die Arbeit eines Untersuchungsausschusses zu beschleunigen. „Wir brauchen jetzt zusätzlich zu einem Untersuchungsausschuss auch eine Sonderermittlerin oder einen Sonderermittler, der gemeinsam von der Landesregierung und den Landtagsfraktionen berufen wird. Einen Ermittler, der sehr schnell den komplizierten Themenkomplex Solingen analysiert und auswertet, welche Fragen in Zusammenhang mit diesem Terroranschlag zügig geklärt werden müssen“, sagte Ott dieser Redaktion. Der Oppositionsführer befürchtet Verzögerungen bei der Ausschussarbeit zu Solingen durch CDU und Grüne.
14.44 Uhr: Die mehrfach gestellte Frage, warum sie bislang nicht nach Solingen gefahren ist, beantwortet Paul weiterhin einfach nicht. Die Ausschussvorsitzende Angela Erwin (CDU) kündigt die letzte Fragerunde an. Der Sitzung neigt sich dem Ende zu. Wir beenden den Ticker mit einer Wortmeldung des CDU-Landtagsabgeordnete Christos Katzidis, der selbst gelernter Polizist ist und gerade berichtet, wie groß schon vor 30 Jahren die Furcht unter Beamten vor Messerangriffen war. Da habe er sogar in einer Grenzsituation mal einen 14-Jährigen „in meinen Pistolenlauf gucken“ lassen müssen.
14.39 Uhr: Paul rechtfertigt, dass der Solinger Attentäter nach der gescheiterten Abschiebung sogar weiterhin Sozialleistungen kassieren konnte: „Das ist geltende Rechtslage.“ Warum wurde Issa al H. nicht als untergetaucht gemeldet, damit die Behörden ein Jahr länger Zeit für die Rückführung nach Bulgarien gehabt hätten: Es sei noch kein aktives Untertauchen, wenn ein Abschiebekandidat einmal nicht in der Unterkunft angetroffen werde, erklärt Paul.
14.26 Uhr: Reul stellt klar, dass die Aktenlage der Sicherheitsbehörden keinen Hinweis auf den Solinger Attentäter gegeben habe. Zugleich sichert er sich ab: „Ich kann nicht ausschließen, dass der Mensch mal aufgefallen ist. In den Akten gibt es nichts.“ Zu Gerüchten, dass Issa al H. Spuren seiner Radikalisierung in den sozialen Netzwerken hinterlassen habe, sagt der Innenminister: Dass es keine behördliche Erkenntnisse gegeben habe, heiße nicht, „dass der nie im Netz etwas Schräges gemacht hat“. Die Solinger Moschee (Konrad-Adenauer-Straße), in der der Syrer angeblich verkehrt haben soll, sei jedenfalls nicht auf dem Radar des Verfassungsschutzes.
Ist der Attentäter den Behörden zuvor aufgefallen?
14.05 Uhr: SPD-Innenexpertin Christina Kampmann hakt nach: War der Solinger Attentäter wirklich in keiner Datenbank der Sicherheitsbehörden aufgeführt? Gab es keinerlei aktenkundige Erkenntnisse seiner islamistischen Radikalisierung? War über die Moschee, in der Issa al H. offenbar verkehrte, nichts bekannt? Innenminister Reul steckt rasch mit seinem Polizei-Abteilungsleiter Gerrit Weber die Köpfe zusammen. Bis zur Antwort hat er noch ein wenig Zeit, weil eine weitere Rederunde der Abgeordneten folgt. Aber der Punkt ist und bleibt zentral: War der Solinger Attentäter ein Einzeltäter, von dessen Hinwendung zum IS niemand etwas ahnen konnte oder gab es Zeichen, die nicht gesehen oder falsch gewichtet wurden?
13.48 Uhr: Paul verteidigt, dass die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld nicht mit mehr Nachdruck nach einem zweiten Abschiebeflug für den späteren Solingen-Attentäter gesucht habe. Der Syrer sei damals ein Abschiebefall von vielen und eben noch kein bekannter Gefährder gewesen. Bei bundesweit nur zehn Abschiebeflügen pro Tag nach Bulgarien könne man nicht jeden Fall priorisieren. „Dann hat man anschließend viele hochpriorisierte Flüge“, rechtfertigt sich Paul.
13.40 Uhr: Reul bestreitet, dass die Behörden von der Radikalisierung des Solingen-Attentäters durch eine gehisste IS-Fahne im Solinger Flüchtlingsheim-Zimmers schon vor Monaten hätten wissen können. „Ich kenne bis zum jetzigen Zeitpunkt keinen Hinweis. Er kann sich zehn Fahnen aufhängen, wenn es keiner meldet, hilft es nichts.“ Ob es Hinweise von ausländischen Geheimdiensten zu dem Syrer gegeben habe, will er nicht sagen. Er bestätige oder dementiere nichts, weil es Informationsquellen gefährden können und man grundsätzlich auf nachrichtendienstliche Zusammenarbeit angewiesen sei.
Untersuchungsausschuss im Landtag soll eingerichtet werden
13.23 Uhr: Schwarz-Grün versucht, irgendwie vor die Lage zu kommen. CDU-Innenexperte Gregor Golland kündigt gerade an, dass ein Untersuchungsausschuss im Landtag eingerichtet werden soll zu der Solinger Terrortat. Die Regierungsfraktionen brauchen dazu die Opposition nicht, laden sie aber zum Mitmachen ein. Ein Untersuchungsausschuss ist das schärfste Schwert des Parlaments und hat gerichtsähnliche Befugnisse. Taktisches Kalkül: Die Koalition will sich wegen der offenkundigen Behördenfehler nicht treiben lassen, sondern an die Spitze der Aufklärung setzen.
13.15 Uhr: AfD-Innenpolitiker Markus Wagner holt die ganz große Keule raus: Ministerin Paul liefere die „Chronik eines kompletten Staatsversagens“. Die vorherige schwarz-gelbe Landesregierung habe wenigstens noch versucht, Abschiebungen durchzuführen. Schwarz-Grün sei dagegen eine Koalition des „Nicht-Abschieben-Wollens“. Wenn Ministerin Paul nun ein „dysfunktionales“ System der Dublin-Abschiebungen diagnostiziere, wäre es ihre Verantwortung gewesen, nach politischen Lösungen zu suchen.
13.09 Uhr: Die Opposition fragt nach dem bundesweiten „Gemeinsamen Zentrum für Rückführungen“, bei dem die Ausländerbehörden offenbar nach neuen Flügen fragen können, wenn eine Abschiebung scheitert. Sprich: Als in der Nacht des 5. Juni 2023 der spätere Attentäter von Solingen nicht aufgegriffen werden konnte, hätte es sich möglicherweise sehr wohl gelohnt, ihn an einem anderen Tag in Paderborn abzuholen und sich um ein neues Ticket nach Sofia zu kümmern. Wenn Abschiebeflüge anderer Bundesländer scheitern, melden sie demnach ihre freien Sitze in das gemeinsame System. Die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld hat aber offenbar gar nicht nachgefragt.
Opposition attackiert Ministerin Paul scharf
13.02 Uhr: Etwas geschmackloser Vergleich von FDP-Mann Lürbke, der zur defensiv kommunizierenden Ministerin Paul sagt: „Nicht der mutmaßliche Attentäter war vier Tage abgetaucht, sondern die zuständige Ministerin.“ Raunen im Saal.
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12.58 Uhr: Ganz anders der Umgang der Opposition mit Innenminister Reul, der noch in der Tatnacht um halb zwei in Solingen Trost gespendet hat: „Das war stark. Herr Minister, ich will Sie loben“, sagt FDP-Mann Lürbke.
12.56 Uhr: Die SPD-Opposition ergreift das Wort und geht die grüne Ministerin Paul gleich frontal an: Sie sei tagelang abgetaucht, habe es nicht für notwendig gehalten, persönlich an den Tatort nach Solingen zu fahren und schiebe nun die Verantwortung an die Kommunen ab: „Das ist nicht nur schwach, das ist feige“, sagt Fraktionsvize Lisa-Marie Kapteinat.
Paul spricht von „vielleicht ungünstigen Zufällen“
12.54 Uhr: Paul verweist immer wieder darauf, dass die Rücküberstellung nach Bulgarien möglicherweise selbst dann nicht geklappt hätte, wenn man den späteren Attentäter von Solingen in einem zweiten Versuch im Flüchtlingsheim Paderborn aufgegriffen hätte. Es gebe nur geringe Kontingente für die bundesweit zentral organisierten Abschiebeflüge nach Bulgarien. Denn die Uhr für die NRW-Behörden lief: Am 20. August 2023 endete die nach den EU-Regeln sechsmonatige Frist zur Rücküberstellung nach Bulgarien.
12.47 Uhr: Paul hat einen Erlass auf den Weg gebracht, der Zentrale Ausländerbehörden an das Anwesenheitsportal aller Landesflüchtlingsheime anbindet. Damit hätte die Ausländerbehörde Bielefeld am 5. Juni 2023 sehen können, dass der gesuchte Syrer wenige Stunden nach der gescheiterten Abschiebung wieder in der Einrichtung in Paderborn beim Mittagessen saß. Warum der Syrer nachts nicht in seinem Bett lag, lässt sich laut der Ministerin nicht mehr ermitteln. Nach damaliger Rechtslage sei es den Behörden nicht möglich gewesen, das Flüchtlingsheim nach dem Abschiebekandidaten zu durchsuchen.
12.44 Uhr: Paul spricht von „vielleicht ungünstigen Zufällen“ bei der gescheiterten Rückführung nach Bulgarien.
12.41 Uhr: Die Abschiebung des Solingen-Attentäters nach Bulgarien sollte am 5. Juni 2023 aus der Landesflüchtlingseinrichtung Paderborn erfolgen, er wurde aber nachts um 2:30 Uhr von der zuständigen Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld nicht angetroffen, erklärt Paul. Kurios: Laut Buchungssystems des Heims war er beim Abendessen am 4. Juni und dann wieder beim Mittagessen am 5. Juni anwesend. Trotzdem wurde kein erneuter Abschiebeversuch mehr unternommen.
NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul verweist auf schwierige Rahmenbedingungen
12.38 Uhr: Paul beschreibt wie schon in den vergangenen Tagen die schwierigen Rahmenbedingungen von Abschiebungen nach Bulgarien: Flüge müssen von Montag bis Donnerstag vormittags per Linie nach Sofia erfolgen und neun Tage im Voraus den bulgarischen Behörden angemeldet werden. Abschiebungen per Bus sind nicht möglich.
12.32 Uhr: Jetzt geht es tiefer ins Asylrecht: Nur 10 bis 15 Prozent der Dublin-Rücküberstellungen (also innerhalb der EU), wie sie im Fall des Attentäters zwischen Deutschland und Bulgarien hätte organisiert werden sollen, seien erfolgreich, sagt Paul. Offenbar ist die Strategie der Ministerin auch heute vor den Abgeordneten wieder: Fehler der ihr unterstellten Behörden werden eingebettet in ein insgesamt fehleranfälliges und bürokratisches Asylsystem.
12.26 Uhr: Jetzt spricht Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne), die besonders in der Kritik steht. Zum Solinger Attentäter hätten den Ausländerbehörden keine sicherheitsrelevante Erkenntnisse vorgelegen, betont Paul. Es sei also ein Fall wie jeder andere Flüchtlinge gewesen.
Reul stellt klar, dass sich der Täter nicht gestellt hat
12.22 Uhr: Reul reagiert angefasst auf einen Zwischenruf des FDP-Innenexperten Marc Lürbke, wann denn die neuen Maßnahmen zur Terrorabwehr kämen. „Ich gehöre nicht zur Abteilung Besserwisser und Schnellschüsse“, reagiert der Innenminister gereizt. Wenn man auf dem Fronhof in Solingen vor den Toten auf dem Pflaster gestanden habe, hüte man sich davor, schnelle Lösungen zu versprechen.
12.20 Uhr: Der Solinger Attentäter sei leider „nicht der erste Asylbewerber, der in unser Land kam, unsere Gutmütigkeit, unser Schutzversprechen ausgenutzt und aus mutmaßlich islamistischer Motivation heraus einen Anschlag verübt und damit viel Leid angerichtet hat“, sagt Reul. Aber man dürfe nicht alle über einen Kamm scheren. Das sei total falsch. „Hetze hilft uns nicht weiter.“
12.15 Uhr: Reul betont, dass sich der Solinger Attentäter (anders als bisher bekannt) nicht gestellt hat. Streifenpolizisten sei am Samstag um 22.47 Uhr in der Nähe des Tatorts eine männliche Person aufgefallen. „Das Verhalten und auch sein Erscheinungsbild waren den Polizisten verdächtig, deswegen wurde er direkt angesprochen und sofort festgenommen.“ Der Innenminister betont: „Anders als schon mal hier und da behauptet hat der Täter sich also nicht gestellt – das ist ja schon ein Unterschied.“
NRW-Innenminister Herbert Reul: Der Staat hat funktioniert
12.12 Uhr: Vor einer großen abstrakten Gefährdungslage hätten alle Sicherheitsbehörden seit Jahren gewarnt worden, sagt Reul. Dennoch zeige Solingen, „dass ein solcher Terrorakt stattfinden kann“. Leider sei es in der Regel nicht möglich, vorherzusagen, wo jemand konkret zuschlage. Dennoch könne bilanziert werden: „Der Staat hat funktioniert.“ Innerhalb von 24 Stunden nach der Tat sei der Verdächtige verhaftet worden.
12.10 Uhr: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) drückt zu Beginn der Sitzung seine Betroffenheit aus. „Den Tag vergisst man nicht“, sagt Reul, der in der Nacht zum Samstag selbst noch den Tatort besucht hatte. Der Minister dankt den Einsatzkräften und berichtet, dass von den Schwerverletzten inzwischen nur noch drei Personen im Krankenhaus bleiben mussten. „Es entwickelt sich zum Guten“, sagt Reul.
12.00 Uhr: Das Interesse an der Sitzung ist groß: Der größte Saal des Parlaments ist so voll wie lange nicht. Die Sitzung startet mit einer Gedenkminute.