Jerusalem. In Jerusalem ist der Krieg im Norden des Landes weit weg, andere Sorgen bestimmen den Alltag – doch das könnte sich schnell ändern.
Schmuel Azouley schüttelt heftig mit dem Kopf. „Ich habe den Angriff heute Nacht gehört, aber dazu keine Meinung“, sagt der 40-Jährige. In sein kleines Restaurant in der Nähe der Jaffa-Straße im Zentrum von Jerusalem haben sich nur wenige Kunden verirrt, obwohl auf der Straße wieder das Leben tobt. „Ich habe wie viele hier mehr Angst vor der Wirtschaftskrise als vor den Raketen“, sagt Azouley. „Ich versuche wegen der ausbleibenden Touristen meinen Laden vor dem Bankrott zu bewahren.“
Wie viele Bewohner im Osten Israels und des Westjordanlands hat Auzouley die Details des nächtlichen Angriffs der Hisbollah hauptsächlich aus den Nachrichten gehört. „Ich habe heute Nacht Kampfflugzeuge gehört, aber das ist seit 10 Monaten Normalität in Isreal.“ Schon Stunden nachdem ein Präventivschlag der israelischen Luftwaffe offenbar einen regionalen Krieg verhindert hat, sind viele Israelis in ihren Alltag zurückgekehrt.
Selbst der von Verteidigungsminister Galant ausgerufene 48-stündige Ausnahmezustand findet kaum Beachtung. Den durch Jerusalem fahrenden Polizeiwagen mit lauten Sirenen, den überall präsenten Streifenpolizisten mit geladenen automatischen Gewehren: Niemand schaut ihnen nach. Jerusalem gilt nicht als Ziel der Raketen der iranischen „Achse des Widerstandes“ – vor allem wegen der Al-Aksa-Moschee oberhalb der Altstadt, die auch für Muslime eine der wichtigsten heiligen Stätten ist.
Israel: Der Krieg ist für viele so weit weg wie für Europäer
Doch die mehr als 2000 Kilometer weit fliegenden Raketen der iranischen Revolutionsgarden oder der Huthis aus dem Jemen könnten auch weit weg von ihrem eigentlichen Ziel einschlagen, warnen israelische Militärexperten. Zwar will die israelische Armee in einem Präventivschlag mehrere Tausend hochmoderne Raketen der Hisbollah zerstört haben. Doch schon während des ersten iranischen Angriffs im April gab es über Ramallah und Jerusalem ein Feuerwerk aus abgefangenen Raketen und Luftabwehrraketen.
Dennoch ist die bislang schwerste Auseinandersetzung mit dem nördlichen Nachbarland für viele Israelis weit weg. „Dasselbe Phänomen beobachten wir auch beim Krieg in Gaza“, berichtet Itamar Avneri von „Standing Together“. Die in Tel Aviv gegründete Initiative wirbt für das Zusammenleben von Palästinensern und Israelis. Jeden Samstag gehen die Aktivsten auf die Straße. „Wenige Stunden vor Beginn des Hisbollah-Angriffs haben wir zusammen mit zehntausend anderen Demonstranten in Tel Aviv für ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln demonstriert“, sagt Avneri.
Der 35-Jährige kritisiert, dass sowohl das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza als auch die vielen von der Grenze zum Libanon vertriebenen Israelis im Alltag kaum noch eine Rolle spielen. „Solange man nicht selbst betroffen ist, kämpft man eben um sein eigenes Überleben“, sagt Avneri. „Der gestrige Angriff wurde ja an der libanesischen Grenze abgefangen. Daher ist der Krieg für viele Menschen in Tel Aviv so weit weg wie für jemanden in Europa.“
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Haifas Bürgermeister: „Sollten uns auf neue Realität einstellen“
Weiter nördlich in Haifa geht es längst darum, Leben zu retten. Zwar hat es dieses Mal keine der Drohnen in die Stadt mit drei Häfen geschafft. Doch Yona Yahav, mit 80 Jahren der wohl erfahrenste Bürgermeister im Land, macht sich keine Illusionen. „Wir rechnen am ersten Tag des nächsten Angriffs mit bis zu 4000 Projektilen, die auf Haifa niedergehen könnten“, sagt er. „Hier leben alle Volksgruppen zusammen, das macht uns zum Ziel von Hassan Nasrallah.“
Der Anführer der Hisbollah-Miliz hat am Sonntag mit einer öffentlichen Rede die erste Phase der Vergeltung für den Mord am Hisbollah-Kommandanten Fuad Schukr für beendet erklärt. Man habe erfolgreich militärische Anlagen angegriffen und den israelischen Schutzschirm „Iron Dome“ überfordert. Der iranische Vergeltungsschlag folge bald.
Haifas Bürgermeister Yona Yahav rechnet mit dem Schlimmsten. „Ich wurde in den letzten Wochen immer wieder als Pessimist kritisiert. Doch wir in Haifa haben Chemikalien aus dem Hafen entfernt und nun den besten Zivilschutz im Land. In anderen Städten sollte man schleunigst lernen, sich auf die neue Realität einzustellen.“