Berlin. Mehr Helmut Schmidt als Willy Brandt: Der Aufrüstungsplan des Kanzlers ist innenpolitisch brisant – denn die SPD hat er überrumpelt.

Die Überraschung ist dem Bundeskanzler gelungen. Der Nato-Gipfel hatte kaum begonnen, da zündete Olaf Scholz zusammen mit US-Präsident Joe Biden eine sicherheitspolitische Bombe. In Deutschland werden wieder amerikanische Waffensysteme stationiert, die Ziele tief in Russland erreichen können: Marschflugkörper vom Typ Tomahawk, Luftabwehrraketen – und bald auch modernste Hyperschallwaffen.

Mehr noch als jede Gipfelerklärung macht die in aller Stille vorbereitete Aufrüstung klar, wie ernst die Lage eingeschätzt wird: Aus Sicht von Nato-Militärs ist nicht mehr gänzlich auszuschließen, dass Russlands Präsident Putin auf seinem hyperaggressiven Kurs auch noch das Risiko einer direkten Konfrontation mit der westlichen Allianz eingeht – in der Erwartung, dass die Europäer nachgeben, weil sie die drohende Eskalation zum Atomkrieg fürchten.

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Es geht auch in den verwegensten Planspielen nicht um eine russische Invasion in Deutschland, eher um Provokationen etwa im Baltikum, mit denen Putin die Entschlossenheit der Nato testen würde – anfangs vielleicht mit hybriden Cyberattacken und Angriffen auf sensible Infrastruktur, später mit Soldaten. Dass es so kommt, gilt nach wie vor als unwahrscheinlich. Aktuell ist die Nato sowieso gut gerüstet, konventionell ist das Bündnis in Europa den Russen bislang überlegen.

Kanzler Scholz wollte sich auch der Unterstützung der USA versichern

Doch sind Militärs alarmiert vom Tempo, mit dem Russland mitten im Krieg weiter aufrüstet – mit hochmoderner Waffentechnologie, neuen Panzerfabriken, mit rapidem Aufwuchs seiner Truppenstärke. Auf dieser Basis Bedrohungsszenarien durchzuspielen, heißt vorzusorgen für den Worst Case, für den indes schon sehr viel schiefgehen müsste.

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Christian Kerl, Korrespondent für Nato und EU. © FMG | FMG

Die Abschreckung hat über 75 Jahre lang gut funktioniert. Gerade damit es so bleibt, sendet die Allianz ein Signal der Stärke an Putin – um bei ihm jeden Zweifel an der Verteidigungsbereitschaft Europas im Keim zu ersticken. Russland, das ist die Ansage an Moskau, wird sich nicht durchsetzen – nicht in der Ukraine und nicht anderswo auf dem Kontinent. Scholz wollte wohl auch rechtzeitig vor einem möglichen Wechsel im Weißen Haus eine Garantie, dass die USA zu ihren Bündnisverpflichtungen stehen.

Das deutsch-amerikanische Muskelspiel ist allerdings nicht ohne Risiko. Auch wenn das Kalkül nachvollziehbar ist, auch wenn Russland schon seit Jahren Mittelstreckenraketen gegen europäische Ziele richtet – aus Kremlsicht könnte sich der Aufrüstungsbeschluss anders darstellen, nicht als Abschreckung, sondern als neue Bedrohung. Zumal die Tomahawks auch mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden können.

Mit Aufrüstungsbeschluss stellt Scholz Partei vor vollendete Tatsachen

Die Gefahr, dass Scholz und Biden ungewollt ein neues Wettrüsten in Europa befeuern, ist nicht von der Hand zu weisen. Dass es so gut ausgeht wie in den 1980er-Jahren, als die marode Sowjetunion wegen der westlichen Atomraketennachrüstung einlenken musste, ist nicht gesagt – anders als damals fehlt es derzeit beiden Seiten an Gesprächsbereitschaft. Umso verwunderlicher, dass der Kanzler die Bürger, ja die eigene Koalition mit diesem brisanten Aufrüstungsbeschluss ohne öffentliche Diskussion vor vollendete Tatsachen stellt.

Eben noch schien es, als wollte sich Scholz als Friedenskanzler inszenieren – jetzt könnte er zum Kanzler des Kalten Krieges werden, als Sozialdemokrat eher bei Helmut Schmidt als bei Willy Brandt. Man darf gespannt sein, ob seine SPD ihm auf diesem Weg folgt. Ebenso spannend ist die Frage, ob ein möglicher US-Präsident Trump den Aufrüstungsbeschluss nicht wieder rückgängig macht. In diesen verrückten Zeiten könnten friedensbewegte Sozialdemokraten am Ende in Trump ihren großen Hoffnungsträger sehen.