Berlin. Die Deutschen leisteten zuletzt 1,3 Milliarden Überstunden im Jahr. Dafür sollen sie bald besser bezahlt werden – doch es gibt Kritik.

Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus. Die geburtenstarken Jahrgänge verabschieden sich nach und nach in den Ruhestand, die Jüngeren können die Lücke nur bedingt füllen. Die Bundesregierung will jetzt mehrere Hebel ansetzen, um das Problem in den Griff zu bekommen und das Arbeitskräfteangebot auszuweiten. Einer davon: Wenn ein Beschäftigter Überstunden leistet, sollen auf die Zuschläge keine Steuern und Sozialabgaben mehr fällig werden. Dieser Plan ist Teil der jüngsten Absprachen der Regierungsspitzen zum Bundeshaushalt 2025. Wir erläutern, was Arbeitnehmer und Arbeitgeber jetzt wissen müssen.

Wie viele Überstunden machen die Deutschen?

Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) leistete jeder Beschäftigte im vergangenen Jahr im Durchschnitt 13,2 bezahlte und 18,4 unbezahlte Überstunden. Bei allen 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern addierte sich das auf 554 Millionen bezahlte und 775 Millionen unbezahlte Überstunden. Insgesamt lag das Volumen also bei rund 1,3 Milliarden Stunden Mehrarbeit. Das IAB ist das wissenschaftliche Forschungsinstitut der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit.

Was plant jetzt die Bundesregierung?

Zusammen mit der Einigung auf einen Haushaltsentwurf verständigten sich Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) Ende vergangener Woche auch auf ein umfangreiches Maßnahmenbündel, um der lahmenden Konjunktur in Deutschland neuen Schwung zu verleihen. Zum Thema Überstunden heißt es in einem Papier der Regierung: „Die Zuschläge für Mehrarbeit werden steuer- und beitragsfrei gestellt.“ Gemeint ist Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgeht. In einem anderen Papier heißt es erläuternd: „Als Vollzeitarbeit gilt dabei für tarifliche Regelungen eine Wochenarbeitszeit von mindestens 34 Stunden, für nicht tariflich festgelegte oder vereinbarte Arbeitszeiten von 40 Stunden.“ Wichtig ist dabei, dass nach den Vorstellungen der Regierung nur Steuern und Abgaben auf die Überstundenzuschläge entfallen sollen – nicht aber auf den Stundenlohn an sich, auf den die Zuschläge gezahlt werden. Die FDP hatte in der Vergangenheit angeregt, auch diesen Lohn steuerlich zu begünstigen.

Wie läuft es bisher?

Bislang werden Überstunden plus Zuschläge wie das andere Einkommen versteuert. Auch Sozialabgaben werden ganz normal fällig. Voraussetzung ist natürlich, dass der Chef die Überstunden überhaupt bezahlt. Etliche Beschäftigte leisten Mehrarbeit, ohne etwas dafür zu bekommen. Verbreitet sind aber auch Regelungen zum Freizeitausgleich: Wer länger arbeitet als vereinbart, kann die Zeit später abbummeln.

Was sagen Arbeitgeber und Gewerkschaften?

In seltener Einigkeit beurteilen Arbeitgeber und Gewerkschaften die Pläne der Bundesregierung skeptisch. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA, Steffen Kampeter, hält die Idee grundsätzlich für richtig, da auch die Zuschläge für Nacht- oder Feiertagsarbeit steuerfrei sind. „Dennoch warnen wir vor allzu großen Erwartungen“, sagte Kampeter. „Das Überstundenvolumen in Deutschland pro Beschäftigten ist seit Jahren rückläufig.“ Zudem sei die Unterscheidung zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Unternehmen nicht plausibel. Der Arbeitgebervertreter warnt: „Je nach Ausgestaltung kann die Regelung zu einem ‚Heizungsgesetz‘ in der Arbeitszeitpolitik werden.“

Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi findet, die Forderung nach Mehrarbeit gehe an der Realität von Millionen Beschäftigten vorbei. „Zuallererst muss Mehrarbeit überhaupt erfasst und bezahlt werden“, sagte Fahimi. Die Gewerkschaftschefin befürchtet zudem eine Überlastung von Arbeitnehmern. „Die Belastungen sind bereits hoch, wie man auch an Langzeiterkrankungen und steigender Erwerbsminderung sieht“, sagte Fahimi. „Das Arbeitszeitrecht dient dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, verkürzte Ruhezeiten sowie längere Arbeitszeiten erhöhen das Unfallrisiko – das ist bestens belegt.“

Wie wird der Vorschlag diskutiert?

Die Union unterstützt die Pläne der Koalition. „Es ist eine gute Nachricht für die Arbeitnehmer, dass die Ampel den Vorschlag der CDU aufgegriffen hat und Überstunden steuerfrei stellen will“, sagte der Bundesvorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels (CDA), Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann, dieser Redaktion. „Gerade wenn die Wirtschaft stagniert, müssen alle mehr anpacken. Und davon sollen dann aber auch alle etwas haben.“

Karl-Josef Laumann
„Gerade wenn die Wirtschaft stagniert, müssen alle mehr anpacken. Und davon sollen dann aber auch alle etwas haben“, findet der Bundesvorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels (CDA), Karl-Josef Laumann. © DPA Images | Carsten Koall

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, lehnt die Pläne der Koalition ab. „Die Steuerbefreiung von Überstunden ist reine Klientelpolitik, die den Staat viel Geld kosten, die Arbeitszeit aber nicht nennenswert erhöhen wird“, sagte Fratzscher dieser Redaktion. Da die Steuerbefreiung von Überstunden auf Beschäftigte in Vollzeit begrenzt werden solle, komme dies stärker Männern und Menschen mit besseren Monatseinkommen zugute. Fratzscher begründet seine Kritik mit einem Blick ins Nachbarland: „Die Erfahrung Frankreichs mit einer ähnlichen Regelung zeigt, dass die Steuerbefreiung die Anzahl der Überstunden kaum erhöht, sondern zu Mitnahmeeffekten führt.“

Der Wirtschaftsexperte rät dazu, stattdessen die Steuerbelastung von Menschen mit geringen Stundenlöhnen und Monatseinkommen zu reduzieren und die Hürden für Frauen in Teilzeit abzubauen, etwa durch einen besseren Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen.