Berlin/ London. Während Keir Starmer mit seiner Labour-Partei einen spektakulären Wahlsieg feiert, verlieren viele Abgeordnete ihren Sitz im Parlament.
Nach den Parlamentswahlen in Großbritannien sind am frühen Freitagmorgen in Richmond im nordenglischen Yorkshire die Kandidaten für den lokalen Sitz im Unterhaus angetreten, um der Verkündung der Wahlergebnisse beizuwohnen. Unter ihnen ist Premierminister Rishi Sunak. Es ist sein Sitz.
Britische Medien berichten seit Tagen, dass Sunak angesichts der miserablen Umfragewerte für seine Partei Angst hatte, seinen Sitz zu verlieren. Es wäre eine historisch einmalige Blamage. Sunak ist seine große Nervosität anzusehen, als der lokale Wahlbeamte an das Rednerpult tritt, um die Wahlergebnisse zu verlesen. Erleichterung. Sunak hält seinen Sitz in dem ländlichen Wahlkreis mit einem deutlichen Vorsprung.
Wahlen in Großbritannien: Labour-Party kommt auf über 400 Sitze
Auch wenn Sunak an diesem frühen Freitagmorgen die wohl größtmögliche persönliche Demütigung erspart bleibt, stehen sowohl er als auch die Tories vor einem Scherbenhaufen: Laut Hochrechnungen vom frühen Freitagmorgen steuert die Labour-Party von Keir Starmer auf über 400 der 650 Sitze im Unterhaus zu. Die Tories kommen demnach auf nur noch etwa 150 Sitze.
Ein Blick auf das Ergebnis der letzten Unterhauswahlen vor fünf Jahren verdeutlicht das Ausmaß des Desasters: Damals gewannen die Tories - damals noch unter Boris Johnson - 365 Sitze, Labour kam auf gerade einmal 203. Für eine Mehrheit im Unterhaus sind 326 Sitze erforderlich. Die Tories haben somit innerhalb von fünf Jahren nicht nur eine außerordentlich klare Mehrheit im Parlament verspielt. Mehr als die Hälfte der konservativen Abgeordneten muss an diesem Abend befürchten, ihre Sitze zu verlieren.
Keir Starmer triumphiert, bei den Tories häufen sich die Niederlagen
Ein strahlender Keir Starmer äußert sich in der Nacht auf Freitag gegen 3 Uhr zum ersten Mal zu dem Erdrutschsieg seiner Partei. Bei der Verkündung der Ergebnisse in seinem Wahlkreis im Zentrum Londons, den er gewonnen hat, erklärt er: „Die Menschen hier und im ganzen Land haben gesprochen und sie sind bereit für Veränderung, hin zu einer Politik der Leistung, zurück zu einer Politik als öffentlicher Dienst.“ Die Veränderung beginne „genau hier“. „Ihr habt gewählt. Jetzt ist es an der Zeit, dass wir liefern.“
Bei den Tories häufen sich unterdessen die Niederlagen: So verliert Verteidigungsminister Grant Shapps seinen Sitz ebenso wie Penny Mordaunt, die als „Leader of the House of Commons“ bislang eine wichtige Regierungsrolle im Parlament vertrat. Sie wurde zuletzt sogar als mögliche Nachfolgerin für Rishi Sunak gehandelt. Weitere prominente Niederlagen werden erwartet.
Die Wucht des Umschwungs zu Labour hängt mit dem britischen Mehrheitswahlrecht zusammen. Die britischen Wählerinnen und Wähler können in den 650 Wahlkreisen nur jeweils eine einzelne Stimme für eine Kandidatin oder einen Kandidaten abgeben. Wer die meisten Stimmen erhält, gewinnt den Sitz. Alle übrigen Stimmen verfallen. Ausgleichsmandate gibt es keine. Große Meinungsumschwünge innerhalb der Bevölkerung schlagen sich in diesem System besonders deutlich nieder. Das erklärt, wie Labour mit etwa 40 Prozent der Stimmen auf den Gewinn von rund zwei Dritteln der Sitze im Parlament zusteuerte.
Wahlsieg der Labour-Party: „Change“-Botschaft zeigt Wirkung
Das britische System sorgt somit für eine gewisse Stabilität. Koalitionsregierungen waren in der Vergangenheit die Ausnahme. Ein Nachteil des Systems ist, dass kleinere Parteien im Parlament unterrepräsentiert sind. So steuerten die britischen Grünen am Freitagmorgen auf lediglich zwei Sitze zu.
Der eindeutige Wahlsieg Labours zeigt, dass die „Change“-Botschaft der Partei bei den Wählerinnen und Wählern offenbar angekommen ist. Dass sich die Menschen in Großbritannien noch 14 Jahren konservativer Regierungen Veränderung wünschen, überrascht kaum. Denn das Land befindet sich in einer desolaten Verfassung.
So hat David Cameron, der die Regierung 2010 von dem Labour-Premierminister Gordon Brown übernommen hat, die öffentlichen Dienste des Landes mit einem drakonischen und zutiefst ideologisch motivierten Sparkurs schwer beschädigt. Die tiefen Verwerfungen, die er damit in weiten Teilen der Gesellschaft auslöste, trugen dazu bei, dass beim EU-Referendum 2016 die Leave-Seite knapp gewann.
Wähler ziehen Konsequenzen
Danach hat sich die konservative Partei im Streit über den Brexit jahrelang selbst zerfleischt. Boris Johnson, der den Job des Premiers 2019 von seiner glücklosen Vorgängerin Theresa May übernahm, versprach Abhilfe, als er im selben Jahr vorgezogene Neuwahlen ausrief: Er wollte den Brexit „erledigen“. Es folgte ein unausgereiftes Abkommen mit der EU, unter dessen Folgen das Land bis heute leidet. Nach einer nicht enden wollenden Serie von Skandalen zwangen seine Minister Johnson im September 2022 zum Rücktritt. Johnsons Nachfolgerin Liz Truss trat mit ihrem rechtslibertären Wirtschaftsprogramm fast eine Finanzkrise los und musste nach 49 Tagen zurücktreten. Und nun ist auch Rishi Sunak spektakulär gescheitert.
Zunächst als Hoffnungsträger gefeiert, erwies sich Sunak im Amt rasch als weitgehend wirkungslos. An die Stelle dringend notwendiger Reformen traten Rückschritte bei den Klimazielen und Rechtspopulismus. Immer wieder stellte Sunak ein erstaunlich schlechtes Urteilsvermögen zur Schau: So sorgte er während des Wahlkampfs für einen Aufruhr, als er Feierlichkeiten anlässlich des 80. Jahrestages der alliierten Invasion in der Normandie vorzeitig verließ, um ein aufgezeichnetes Fernsehinterview zu geben. Die verbliebenen noch lebenden Veteranen stieß er damit vor den Kopf.
Dass sich die britischen Wählerinnen und Wähler so eindeutig auf die Seite von Labour geschlagen haben, hat auch damit zu tun, dass Starmer die Partei seit seinem Amtsantritt als Labour-Parteichef vor vier Jahren von Grund auf umgekrempelt hat. Starmer beförderte einige wichtige Vertreter des linken Flügels der Partei auf das Abstellgleis. Seinen linken Vorgänger Jeremy Corbyn ließ er 2020 ganz aus der Partei und aus der Fraktion im Unterhaus suspendieren. Corbyn hatte zuvor einen Bericht über Antisemitismus in der Labour-Partei als „dramatisch übertrieben“ bezeichnet. Anschließend verhindere die Parteiführung, dass Corbyn erneut in seinem Wahlkreis in London für Labour antreten durfte.
Starmer verspricht Wende – Stabilität ist fragil
Kritiker sehen in Starmer daher vor allem einen Wendehals. Schließlich war der Labour-Chef ursprünglich als Kontinuitätskandidat zu Corbyn angetreten, hat sich seitdem aber von praktisch allen radikaleren Forderungen aus früheren Jahren verabschiedet. Doch Pech für Starmer: Jeremy Corbyn trat bei den Wahlen in seinem traditionellen Wahlkreis Islington North als unabhängiger Kandidat an - und gewann den Sitz.
Für Keir Starmer brauen sich jedoch aus einer anderen Richtung Gewitterwolken am Horizont zusammen. Denn der zweite große Sieger der Wahlnacht heißt Nigel Farage. Der Rechtspopulist war erst Anfang Juni als Kandidat seiner „Reform“-Partei im Wahlkreis Clacton in Essex nordöstlich von London angetreten. Diesen Wahlkreis hat er mit deutlichen Vorsprung vor allen anderen Kandidaten gewonnen und wird nun (nach sieben gescheiterten Versuchen) als Abgeordneter ins Unterhaus einziehen. Eine Handvoll anderer „Reform“-Abgeordneter könnte ihm gemäß der Hochrechnungen aus der Nacht auf den Freitag folgen. Das könnte für Starmer zum Problem werden.
Denn in erstaunlich vielen Wahlkreisen, in denen Labour gewann, errang „Reform“ die zweitmeisten Stimmen. Das, gepaart mit dem Umstand, dass viele Printmedien des Landes dem langjährigen Brexit-Vorkämpfer Farage gegenüber freundlich eingestellt sind, dürfte dazu führen, dass der kommenden Labour-Regierung schon bald eine lautstarke und medienwirksame Opposition von rechtsaußen entgegenschlagen dürfte.
Mit solchen Überlegungen dürfte sich Keir Starmer am Freitag jedoch kaum aufhalten. Er dürfte traditionsgemäß am Freitagvormittag zum Buckingham Palace fahren, wo ihn König Charles mit der Regierungsbildung beauftragen dürfte. Noch im Lauf des Freitags dürfte Starmer den Großteil seines Kabinetts beisammen haben.