London. Blass, aber kompetent: Der Labour-Chef hat die Wahl gewonnen und kündigt Wandel an. Die Frage ist, ob er hält, was er versprochen hat.
- Die Labour-Party gewinnt die Parlamentswahl
- Keir Starmer ist der neue Premierminister
- Der designierte Premier verspricht Wandel
Im Mai 2021 war Keir Starmer nah dran, das Handtuch zu werfen. Er war erst ein Jahr zuvor zum Labour-Vorsitzenden gewählt worden, aber nach einer schweren Wahlniederlage in Nordengland stand er kurz vorm Rücktritt. „Zu verlieren, schmerzt“, sagte er kürzlich in einem TV-Interview. Er habe sich jedoch damals die Frage gestellt, ob sich Labour von dem Rückschlag erholen und „zurück an die Regierung kommen kann“. Jetzt, drei Jahre später, lautet die Antwort: Ja, kann sie.
Keir Starmer wird nun als Premierminister in die Downing Street einziehen. Zum ersten Mal seit 2010 steht damit ein Labour-Politiker an der Spitze Großbritanniens. In den vergangenen Monaten und Wochen sind oft Parallelen zu 1997 gezogen worden – damals errang Labour-Chef Tony Blair einen Erdrutschsieg und setzte langen Tory-Jahren ein Ende. Was jedoch die Persönlichkeiten anbelangt, könnten Blair und Starmer verschiedener kaum sein.
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Blair hatte Starqualität, er war charismatisch und ein überzeugender Redner. Der 61-jährige Starmer hingegen ist etwas steif im Umgang, seine rhetorische Begabung ist mittelmäßig. Seine Anhänger sagen, das sei ein Vorteil. Dass Starmer „langweilig“ ist, sei zu begrüßen, schrieb das Magazin „Prospect“ vor einigen Wochen – in den vergangenen Jahren habe es in Westminster etwas „zu viel Drama, Aufregung und Chaos gegeben“, da sei etwas Nüchternheit gar nicht so verkehrt.
Keir Starmer: Seine steile Karriere vom Juristen zum Politiker
Geboren 1962 im Londoner Bezirk Southwark, wuchs Starmer in einem Vorort südlich der Hauptstadt auf. Seine Mutter war Krankenschwester, der Vater Werkzeugmacher. Beide waren Labour-Anhänger, und auch das Herz des jungen Keir schlug links. Mit 16 Jahren trat er der Parteiorganisation Labour Party Young Socialists bei, bald machte er sich einen Namen als linker Heißsporn. Ein damaliger Freund erzählte, dass Starmer und einige seiner Mitstreiter sich einmal extra für einen Volkslauf einschreiben ließen, damit sie den Tory-Abgeordneten Geoffrey Howe, der ebenfalls teilnahm, öffentlich beschimpfen konnten.
Nach seinem Rechtsstudium in Leeds und Oxford begann er Ende der 1980er-Jahre seine Karriere als Anwalt. Starmer verteidigte Greenpeace-Aktivisten gegen McDonald’s, untersuchte Vorwürfe der Polizeibrutalität in Nordirland und setzte sich für Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee ein, die von britischen Gefängniswärtern misshandelt worden waren. 2001 wurde er zum Menschenrechtsanwalt des Jahres gekürt.
Zwei Gesichter? Kritiker werfen Keir immer wieder Wortbruch vor
Seine Karriere nahm einen großen Schritt nach vorne, als er 2008 zum Director of Public Prosecutions ernannt wurde, dem obersten Staatsanwalt Großbritanniens. Es ist ein prestigeträchtiger Posten im britischen Staatsgefüge – und Starmers linke Instinkte traten zunehmend in den Hintergrund. Als Dankeschön für seine Arbeit wurde er nach seinem Abtritt als Staatsanwalt 2014 zum Ritter geschlagen, er ist seither ein „Knight Commander of the Order of the Bath“ und wird als „Sir“ angesprochen.
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Wenig später wagte Starmer den Schritt in die Politik. 2015 wurde er als Labour-Abgeordneter ins Unterhaus gewählt – und hatte schon ein Jahr später einen überaus einflussreichen Job: Parteichef Jeremy Corbyn machte ihn zum Brexit-Verantwortlichen im Schattenkabinett.
Als die Partei in den folgenden Jahren hoffnungslos in Brexit-Streitereien versank, tat sich Starmer als einer der glühendsten Fürsprecher eines zweiten Referendums hervor. Beim EU-freundlichen Flügel der Partei, wie auch bei vielen liberalen Zeitungskommentatoren, fand er damit viel Zuspruch. Manche sahen ihn bereits als künftigen Parteichef.
Europa dürfte sich freuen, wenn Starmer britischer Premier wird
Seine Stunde kam bald. Die Corbyn-Jahre endeten im Dezember 2019 mit einem erniedrigenden Wahldebakel, wenige Monate später wurde Starmer zum Labour-Chef gewählt. Er hatte während seiner Kampagne versprochen, das linke Programm seines Vorgängers beizubehalten, von der Vergesellschaftung der Energie- und Wasserversorgung über Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft bis zu Steuererhöhungen für Reiche.
Aber es dauerte nicht lange, da warf er ein Versprechen nach dem anderen über Bord. Die Parteilinke wurde an den Rand gedrängt, Corbyn aus der Fraktion ausgeschlossen, und Starmer signalisierte der Geschäftswelt, dass sie keine radikale Wirtschaftspolitik zu befürchten habe. Auch über den Brexit sprach er kaum noch – und wenn, dann bestand er darauf, dass die Sache erledigt sei, den Streit von Neuem anzufangen, darauf hatte er keine Lust.
Er selbst sagt, der Schwenk in die Mitte sei nötig, um in die Downing Street 10 einziehen zu können. „Zu gewinnen ist meine erste Priorität“, hat er immer wieder betont. Aber für seine Kritiker zeugt es von einer tiefen Unehrlichkeit – sie nennen ihn „zweigesichtigen Starmer“. Während des Wahlkampfs wurde Starmer immer wieder mit dem Vorwurf des Wortbruchs konfrontiert. Dass die Briten nicht restlos überzeugt sind von Starmer, zeigen auch Umfragen: Seine Beliebtheitswerte haben sich im Lauf der Kampagne zwar verbessert, sind aber immer noch recht bescheiden.
In Europa hingegen dürfte man sich freuen, dass Starmer das Ruder übernimmt. Zwar hat er schon öfter explizit gesagt, dass er auf keinen Fall eine Rückkehr in den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion plant – aber eine Verbesserung im Verhältnis ist dennoch zu erwarten, nicht zuletzt im Tonfall. Zu Olaf Scholz hat Starmer einen guten Draht, er traf ihn schon vor zwei Jahren zu privaten Gesprächen in Berlin. Es ging auch darum, wie das Verhältnis zwischen Deutschland und Großbritannien nach dem Brexit verbessert werden kann.
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