Berlin. Katarina Barley warnt vor der EU-Wahl, dass Rechtsextreme Europas Frieden gefährden. Eine Botschaft hat sie für Ursula von der Leyen.

Katarina Barley hat eine kurze Nacht hinter sich, als sie unsere Redaktion zum Gespräch trifft: Am Vorabend ist die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl bei einer TV-Debatte gewesen, am Morgen stand bereits der nächste TV-Termin an. Barley kämpft: Bei der letzten Europawahl war die SPD auf ein historisches Tief von 15,8 Prozent gestürzt. In Umfragen sieht es derzeit nicht besser aus. Im Interview spricht die 55-Jährige über die drohenden Folgen eines Rechtsrutsches in Europa. Und über das langfristige Ziel einer europäischen Armee.

Der Europawahlkampf war geprägt von Angriffen auf Politikerinnen und Politiker. Haben Sie so etwas auch erlebt?

Katarina Barley: Ich erlebe schon lange Entgleisungen vor allem im Internet, auch weil ich mich als EU-Abgeordnete mit den Autokraten Europas anlege. Da werden meine Postfächer mit übler Hetze überflutet. Ich beobachte eine harte Spaltung der Gesellschaft: Ein kleiner Teil hat sich abgekoppelt und will gar nicht mehr reden, sondern nur noch pöbeln. Auf der anderen Seite erlebe ich jetzt viel häufiger als früher, dass Menschen auch bewusst positiv reagieren – einem die Hand schütteln, Erfolg wünschen, sich sogar bedanken für das Engagement als Politikerin. Wir dürfen also bei all den schlechten Nachrichten nicht übersehen: Es gibt sehr wohl die Anständigen – und es sind viel mehr.

Die AfD geht mit zwei Kandidaten an der Spitze in die Europawahl, gegen beide werden schwere Vorwürfe erhoben, die Justiz ermittelt. Ist es in Ordnung, wenn sie trotzdem im nächsten Parlament sitzen?

Rechtlich gesehen gibt es keine Möglichkeit, ihnen das zu verwehren. Sie selbst hätten die Möglichkeit, jetzt eidesstattlich zu versichern, dass sie das Mandat nicht annehmen. Aber das halte ich für unwahrscheinlich, da sie sich in einen Märtyrerstatus flüchten wollen. Unabhängig davon, ob diese Abgeordneten Geld für prorussische oder prochinesische Äußerungen bekommen haben – es ist offensichtlich, für wen sie lobbyieren. Sie vertreten nicht die Interessen der Wähler in Deutschland, sondern von Mächten wie China oder Russland.

Die AfD ist sogar der Rechts-außen-Fraktion ID im Europaparlament zu radikal. Sehen Sie die Zeit für ein Verbotsverfahren gegen die AfD gekommen?

Da sind wir noch nicht. Man sollte ein Verbotsverfahren erst betreiben, wenn man absolut sattelfest in der Begründung ist. Bemerkenswert ist, dass die ID-Fraktion mit der Partei der Rechtspopulistin Marine Le Pen jetzt die AfD-Abgeordneten ausgeschlossen haben. Wenn Le Pen sagt, die AfD ist zu rechtsextrem, haben sie keine Ausreden mehr. Allerdings dürfen wir es Le Pen nicht erlauben, die Auseinandersetzung dazu zu benutzen, sich selbst als gemäßigter darzustellen, als sie ist. Ich bin froh, dass es bei uns noch eine Debatte über eine Brandmauer gegen Rechtsextreme gibt. Das gibt es in anderen Ländern nicht.

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Welche Länder meinen Sie?

Italien zum Beispiel: Regierungschefin Giorgia Meloni gibt sich im Moment proeuropäisch. Aber sollte sich in Frankreich Le Pen durchsetzen und in Österreich Kickl mit seiner FPÖ – dann wechselt Meloni in dieses extreme Lager. Anderswo öffnen Konservative und Liberale den Rechtsextremen die Türen zur Macht, holen sie in die Regierung und legitimieren sie – in Schweden oder jetzt auch in den Niederlanden. So bekommt ein Land nach dem anderen eine Rechtsregierung, obwohl die Rechts-außen-Parteien gar nicht überall so stark sind.

Im Wahlkampf präsentiert die SPD ihre Europaspitzenkandidatin Katarina Barley gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz.
Im Wahlkampf präsentiert die SPD ihre Europaspitzenkandidatin Katarina Barley gemeinsam mit Bundeskanzler Olaf Scholz. © AFP | John Macdougall

Was sagt das über den Zustand Europas aus?

Die Parlamentswahl am 9. Juni ist so wichtig, weil der Rat der Mitgliedstaaten schon kippt und in der nächsten Kommission Vertreter von Rechtsregierungen sitzen werden. Nur das EU-Parlament kann da noch gegenhalten – deshalb ist diese Europawahl so entscheidend wie keine andere zuvor.

Die Umfragen sagen allerdings einen Zugewinn von Rechts-außen-Parteien im Parlament voraus …

Ich halte das nicht für ausgemacht, das hängt auch von der Wahlbeteiligung ab. Aber wenn auch das Parlament einen massiven Rechtsrutsch erlebt, droht uns ein anderes Europa: Die Rechtsaußen wollen einen Bund europäischer Nationalisten, in dem jedes Land für sich nur nach seinen nationalistischen Vorstellungen handelt. So eine Konstruktion, in der sich jeder für den Größten hält und an erster Stelle kommen will, kann über kurz oder lang keine Friedensunion mehr sein.

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    Sie fürchten, es könnte wieder zu Gewalt zwischen EU-Staaten kommen?

    Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es so friedlich bleibt, wie wir es bisher hatten. Ich weiß nicht, ob es nach ein paar Jahren wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen münden würde. Es wäre aber eine Umkehr auf dem Weg, den wir in den letzten 70 Jahren gegangen sind. Die EU ist auch gegründet worden, um die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu beenden. Und wie spricht jetzt Le Pen über Deutschland? Wenn Le Pen sich durchsetzt, droht uns wieder mehr Konfrontation zwischen Deutschland und Frankreich. Der Firnis ist dünn, wir müssen die Augen aufmachen.

    Ursula von der Leyen ist bereit, sich im Parlament mit den Stimmen von Rechts-außen-Parteien als Kommissionspräsidentin wiederwählen zu lassen.

    Das ist ein großes Problem: Die Konservativen verschließen die Augen vor der Gefahr, wenn sie Rechtsaußen für ihre Macht brauchen. Sie lernen nicht aus den Erfahrungen. Die konservative EVP hat Viktor Orban über viele Jahre verhätschelt, er war jedes Jahr Ehrengast bei der CSU, während jeder sehen konnte, wie er die Demokratie in Ungarn zertrümmert.

    Wo ist für Sie die rote Linie bei einer Wiederwahl von der Leyens?

    Die rote Linie hat von der Leyen selber definiert: Sie will von den Abgeordneten gewählt werden, die pro Europa, pro Ukraine und pro Rechtsstaat sind. Pro Ukraine ist Meloni. Pro Europa? Sie macht mit, solange sie muss. Aber pro Rechtsstaat? Damit hat Meloni nichts am Hut. Sie setzt den Rechtsstaat in Italien aus und schneidet alles auf sich zu. Die Kontrolle der Ministerpräsidentin soll auf allen Ebenen eingeschränkt werden. Orban lässt grüßen. Aber das nimmt von der Leyen in Kauf, sie will sich von solchen Leuten wählen lassen.

    Dann stimmen die Sozialdemokraten nicht für von der Leyen?

    Wenn sie versucht, Mehrheiten mit der extremen Rechten zu schmieden, dann sind wir raus.

    Wie beurteilen Sie die politische Bilanz der Kommissionspräsidentin?

    Durchwachsen. Die schnelle Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine mit Sanktionen, Hilfslieferungen und Waffen hätte niemand der EU zugetraut. Am allerwenigsten Putin. Das war gut. Während der Corona-Pandemie hätte von der Leyen aber ein genauso geschlossenes Handeln hinbekommen müssen, das hat nicht funktioniert. Richtig schlecht war ihr Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit in Europa. Beim Umwelt- und Klimaschutz hat sie erst viel gemacht, dann aber auf Druck von den Rechten und aus der eigenen Partei vieles wieder einkassiert.

    Die Bundesregierung erlaubt der Ukraine, mit den gelieferten Waffen militärische Ziele in Russland anzugreifen. Den dafür geeigneten Marschflugkörper Taurus will Scholz aber nicht liefern. Ein Fehler?

    Taurus ist eine sehr besondere Waffe, deswegen gibt es Vorbehalte. Olaf Scholz tauscht sich sehr intensiv mit den Verbündeten dazu aus. Ich finde, wir müssen in dieser Sache nicht immer jedes Detail öffentlich ausbreiten. Ich vertraue dem Bundeskanzler, dass er die richtige Entscheidung trifft.

    „Wir müssen die Debatte über eine Wehrpflicht und die Stärke unserer Armeen in Europa ehrlich führen“, sagt Katarina Barley im Interview.
    „Wir müssen die Debatte über eine Wehrpflicht und die Stärke unserer Armeen in Europa ehrlich führen“, sagt Katarina Barley im Interview. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

    Die Rede ist von einem EU-Beitritt der Ukraine bis 2030. Ist das realistisch?

    Konkrete Jahreszahlen zu nennen hilft nicht weiter. Das Datum hängt vom Fortschritt ab, den ein Land macht. Wir sind der Ukraine weit entgegengekommen, als wir ihr den Kandidatenstatus gegeben haben. Für einen Beitritt gibt es aber sehr feste Kriterien: Das Land muss die politischen Voraussetzungen schaffen in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Kampf gegen Korruption und wirtschaftlich einigermaßen mithalten können. Die Ukraine weiß, dass sie von diesen Kriterien noch weit entfernt ist.

    Aber die EU wäre bereit für die Ukraine?

    Bevor wir weitere Staaten aufnehmen, brauchen wir Reformen. Mit 27 Mitgliedstaaten sind wir aktuell am Limit. Das betrifft Abstimmungen, bei denen alle Staaten einer Meinung sein müssen, aber auch die Anzahl von 27 Kommissaren in der Kommission. Solche Änderungen sind dicke Bretter, die wir aber bohren müssen, um handlungsfähig zu bleiben.

    Die Bundesregierung streitet derzeit darum, woher mehr Geld für die Bundeswehr und die Ukraine-Hilfe kommen soll. Was ist Ihr Vorschlag?

    Wir kommen nicht um eine Reform der Schuldenbremse herum. Die FDP-Spitzenkandidatin für Europa, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, ruft immer nach mehr Waffen, will die Schuldenbremse aber nicht antasten. Das passt nicht zusammen.

    Sollte es einen europäischen Sonderfonds für die gemeinsame Sicherheit geben?

    Auf europäischer Ebene ist der erste Schritt eine engere Zusammenarbeit bei der Herstellung und Beschaffung von Rüstungsgütern. Das kann viele Milliarden sparen. Der zweite Schritt ist eine weitere Verschränkung der nationalen Armeen, das ist schon auf dem Weg etwa zwischen Deutschland und den Niederlanden. Der dritte Schritt wäre schließlich der Aufbau einer europäischen Armee.

    Wann soll die einsatzbereit sein?

    Das ist nichts für die nächsten drei Jahre. Eher für die nächsten 30 Jahre.

    Die meisten europäischen Staaten haben keine Wehrpflicht mehr. Kann das in der aktuellen Bedrohungslage so bleiben?

    Wir müssen die Debatte über eine Wehrpflicht und die Stärke unserer Armeen in Europa ehrlich führen. Wenn wir sagen, wir wollen uns verteidigungsbereit machen, dann ist es nicht damit getan, Gerät anzuschaffen. Wir brauchen kein einheitliches Modell für alle. Aber jedes Land muss sicherstellen, im Rahmen seiner Möglichkeiten verteidigungsbereit zu sein.