Berlin. Corona hat Deutschland 2020 kalt erwischt. Noch immer haben Ärzte, Krankenhäuser und Apotheken zu wenige Reserven für den Krisenfall.
Es ist eine kleine Meldung aus den USA, die Experten gerade hellhörig macht: In Texas ist ein Mensch positiv auf Vogelgrippe getestet worden. Er hatte Kontakt zu Milchkühen, bei denen das hochgefährliche H5N1-Virus vermutet wird. Ende März war H5N1 erstmals bei Kühen in den USA entdeckt worden. Experten vermuten, dass es von Wildvögeln übertragen wurde.
Aktuell grassiert weltweit die größte je dokumentierte Vogelgrippewelle. Fachleute warnen davor, dass sich das Virus anpasst und auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Und dann? Wären wir vorbereitet auf eine neue Pandemie? Ist das deutsche Gesundheitswesen für den Krisenfall gerüstet? Die Antwort ist besorgniserregend.
Lesen Sie auch: Corona stahl mir die Chance meines Lebens
Welches Virus löst die nächste Pandemie aus?
„Die größte Sorge bereiten mir Influenza-Viren, aktuell vor allem das Vogelgrippe-Virus und das Schweinegrippe-Virus“, sagt der Virologe Klaus Überla. Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist auch deswegen besorgt, weil Influenzaviren weit verbreitet sind, ihre Eigenschaften schlagartig ändern können und sich sehr effizient von Mensch zu Mensch ausbreiten, wenn sie sich einmal an den Menschen angepasst haben. „Influenzaviren können leicht neue Pandemien auslösen.“ Die US-Gesundheitsbehörde CDC stuft das Risiko einer H5N1-Infektion für Menschen aktuell als gering ein, beobachtet die Ausbreitung aber mit erhöhter Wachsamkeit.
Das ganze Interview mit dem Virologen: Stiko-Chef: Diese Viren können leicht Pandemien auslösen
„Wir müssen uns darauf einstellen, dass es in Zukunft häufiger zu Pandemien kommt“, mahnt auch Gesundheitsexperte Janosch Dahmen. Der Klimawandel und die Industrialisierung der Landwirtschaft machten die Entstehung und Verbreitung von Zoonosen wahrscheinlicher, so der Grünenpolitiker. Zoonosen sind Krankheiten, die Menschen und Tiere gleichermaßen treffen können. Auch Dahmen hat das H5N1-Virus im Blick: „Der Weg zum Menschen ist kurz, wie wir gerade in den USA gesehen haben.“
Sind wir gerüstet für die nächste Krise?
Nein, sagt Gesundheitsexperte Dahmen. „Wir sind auf künftige Pandemien nicht genügend vorbereitet.“ In Deutschland habe sich zwar seit der Corona-Pandemie in vielen Bereichen einiges verbessert, aber das reiche nicht aus. Bei Schutzausrüstung, Test-Kits oder Arzneimitteln sei die Abhängigkeit von globalen Lieferketten noch zu groß. „Das führt dazu, dass wir massive Probleme bekommen, sollte die ganze Welt plötzlich etwas sehr dringend brauchen.“ Die Rückverlagerung der Produktion dauere trotz aller Kraftanstrengung nach Europa lange, möglicherweise zu lange.
Bei der Entwicklung von Impfstoffen und Tests dagegen habe Deutschland Pionierarbeit geleistet und sich globale Vorteile durch medizinische Wissenschaft erarbeitet. „Aber darauf dürfen wir uns nicht ausruhen.“ Wichtig sei es jetzt, mehr Produktionsstätten in Europa zu schaffen und auszubauen, mahnt Dahmen. „In der letzten Pandemie fehlte fast alles, bis hin zu Glasampullen und Abfüllmaschinen. Das darf uns nicht wieder passieren.“ Das Bundesgesundheitsministerium sieht das Land in diesem Punkt mittlerweile gut vorbereitet – und verweist auf die Bereitschaftsverträge, die der Bund zur Vorhaltung von Produktionskapazitäten mit den Impfstoffherstellern abgeschlossen habe.
Sind die Gesundheitsämter bereit für den Notfall?
Wie wichtig die Gesundheitsämter sind, wenn ein Virus das halbe Land lahmlegt, hat Corona eindrücklich gezeigt. Doch jetzt droht ausgerechnet hier ein Rückfall in alte Zeiten, warnt die Potsdamer Amtsärztin Kristina Böhm. In der Pandemie wurden mit Bundesmitteln tausende neue Stellen in den Gesundheitsämtern geschaffen. Doch die Förderung durch den Bund läuft 2026 aus. „Wegen der schwierigen Haushaltslage in den meisten Kommunen droht nun eine riskante Rolle rückwärts“, sagt die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD). In vielen Städten und Gemeinden liefen etliche der neu geschaffenen Stellen schon Ende 2026 wieder aus oder seien von vornherein nur befristet besetzt worden. „Gerade in den kleinen Gesundheitsämtern auf dem Land ist die Gefahr groß, dass hier schon bald wieder Lücken entstehen.“
Besonders bitter: Bei der Digitalisierung der Gesundheitsämter gibt es auch vier Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie immer noch massive Lücken. „Wir arbeiten auch immer noch mit Faxgeräten“, sagt Böhm. Das liege daran, dass viele Arztpraxen Patientendaten immer noch per Fax versendeten. „In diesem Punkt sind wir überhaupt noch nicht da, wo wir sein sollten“, warnt die Medizinerin.
- Medizinprodukte: Corona-Test abgelaufen – Kann man ihn noch benutzen?
- Richtiges Verhalten: Corona-positiv ohne Symptome – Kann ich arbeiten gehen?
- Infektion: Corona-Test ist positiv? Das müssen Sie jetzt tun
Masken, Schutzanzüge, Medikamente: Reichen die Reserven?
Das Bundesgesundheitsministerium kann derzeit nicht sagen, wie groß die aktuellen Bestände an Schutzmitteln wie Masken, Hygienemitteln oder Schutzkleidung sind. Bislang fehlten Informationen aus den Ländern, eine Auswertung stehe deswegen noch aus, hieß es auf Anfrage. Geplant ist der Aufbau einer „Nationalen Reserve Gesundheitsschutz“ – doch der Ausbau stockt, ein Grund für die Verzögerung ist auch die schwierige Haushaltslage.
Die Amtsärzte sehen Deutschland deswegen schlecht aufgestellt: „Damit wir für künftige Pandemien gerüstet sind, müssen wir deutlich mehr Material und Personal in Reserve haben“, mahnt Amtsärztechefin Böhm. Viele Politiker scheuten jedoch die hohen Vorhaltekosten, „aber nur so kann man sich auf einen plötzlichen Krisenfall vorbereiten“. Damit die Reserven nicht ungenutzt verfallen, schlägt Böhm ein rollierendes System vor, bei dem das Material rechtzeitig in den Gebrauch kommt und die Reserve gleichzeitig neu aufgefüllt wird. Das sieht auch Grünen-Gesundheitsexperte Dahmen so. Seine Forderung: Die Reserven beim Großhandel der Apotheken, in den Arztpraxen und Krankenhäusern müssten auf ein Niveau hochgefahren werden, das auf eine plötzliche weltweite Notlage reagieren kann. Das Gleiche gelte für die deutschen Produzenten: „Zeitwende im Gesundheitswesen heißt auch, dass Deutschland in der Lage sein muss, für einige Monate den Bedarf für sein Gesundheitswesen aus eigener Kraft zu decken.“
Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht die Lücken. Bis zum Sommer soll ein Vorschlag kommen, wie Deutschlands Gesundheitswesen für den Katastrophenfall oder sogar einen militärischen Bündnisfall vorbereitet werden muss.
Wie geht es bei der Aufarbeitung der Corona-Pandemie weiter?
Für eine Enquete-Kommission fehlt bislang die Mehrheit. Innerhalb der Ampel steht die FDP allein mit ihrer Forderung: „Dabei wäre es wünschenswert, wenn unsere Koalitionspartner diesen Weg gemeinsam mit uns gehen würden“, sagt FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus. Das neueste Argument der Gegner: Zu wenig Zeit. Selbst, wenn die Kommission noch kurzfristig eingesetzt würde, hätte sie bis zur nächsten Bundestagswahl gerade mal ein Jahr. Heißt: Es wird von Woche zu Woche unwahrscheinlicher.
- Das Virus bleibt: Neue Corona-Variante – Sorgt KP.2 für eine Sommerwelle?
- AstraZeneca: Corona-Impfstoff in der EU nicht mehr zugelassen – die Gründe
- Nach Corona: Diese Viren könnten eine neue Pandemie auslösen
- Studie: Depressionen möglich? Corona attackiert die Glückshormone im Gehirn
- Jugendliche: Was eine verfrühte Pubertät mit der Corona-Pandemie zu tun hat