Washington. Unser Autor war am 11. September als Korrespondent in den USA. Lesen Sie hier, wie er den Terror erlebt hat – und was er dabei dachte.

  • Die Terroranschläge vom 11. September 2021 haben sich in das Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt
  • Unser Autor war damals als Korrespondent in den USA und erlebte die Geschehnisse vor Ort
  • Hier berichtet er von seinen ganz persönlichen Erfahrungen

Es gibt Tage, die teilen das Leben unwiderruflich in ein Davor und Danach. Tage, an denen das Unfassbare in der Wirklichkeit einschlägt wie ein Asteroid auf der Erde. Der 11. September 2001 war ein solcher Tag. Ich stieg wie gewohnt kurz vor sechs Uhr aus der U-Bahn und holte mir im Starbucks um die Ecke einen Grande Americano mit zwei Schokocroissants. Danach ging ich in mein Büro im Herzen von Washington. Ich war damals USA-Korrespondent für das "Handelsblatt".

Im Hintergrund lief das Morgenprogramm des Fernsehsenders ABC. Kurz vor neun unterbrach die Moderatorin die Sendung. „Nach ersten Angaben ist ein Kleinflugzeug in das World Trade Center in New York gestürzt“, sagte sie. „Es muss ein Unfall sein, vielleicht eine Cessna“, dachte ich.

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Terror am 11. September: „Wir können nichts tun, nichts. Nur beten.“

Rund 20 Minuten später. Die Moderatorin wich wieder von ihrem Skript ab, sprach hastig den Satz: „Ein zweites Flugzeug ist ins World Trade Center gekracht, in beiden Fällen handelt es sich um Passagiermaschinen.“ Kurz darauf brachten TV-Kommentatoren Osama bin Laden, den Chef des Terrornetzwerks Al-Kaida, als Drahtzieher eines Anschlags ins Spiel.

Und dann gab es die ersten Fernsehbilder, bei denen ich noch heute Gänsehaut bekomme: Die Jets, die sich in die Zwillingstürme bohrten. Feuerbälle. Rauchwolken. Ascheregen. Menschen, die über Schutthaufen auf den Straßen um ihre Leben rannten. Ich eilte aus dem Büro hinaus. Auf dem Weg nach draußen warf mir der Pförtner Bill Evans, ein Endfünfziger mit randloser Brille, den Satz zu: „Wir können nichts tun, nichts. Nur beten.“

Auf der K Street bildeten sich lange Schlangen vor einem Fernsehgeschäft. Schweigend, mit kaltem Entsetzen schauten die Menschen auf die Katastrophenaufnahmen in New York. „Das ist ein Angriff auf amerikanischem Boden, ein zweites Pearl Harbor“, sagte Lesley Crawford, eine blonde Sekretärin mit zitronengelbem Kleid. Jener Angriff von 1941 also, bei dem japanische Flieger die US-Pazifikflotte im Hafen auf Hawaii attackierten.

Als sie Pearl Harbor erwähnte, zuckte ich zusammen. Ich begriff: Was heute passiert ist, ist ein gewaltiger Einschlag in die kollektive Psyche Amerikas. Die Menschen hatten bislang geglaubt, dass sie durch zwei Ozeane geschützt seien. Die Supermacht, die nie einen Krieg auf eigenem Territorium erlebt hatte, wurde zur Zielscheibe eines anonymen Feindes.

Angst nach 9/11: "Hätte die Maschine auch mich treffen können?"

Dann der nächste Schock. Kurz vor zehn wurde die Nachricht verbreitet, dass eine weitere Maschine den Westflügel des Pentagons zerstört hat. Ich stieg sofort ins Taxi und fuhr zum US-Verteidigungsministerium, das eineinhalb Kilometer von meiner Wohnung entfernt lag. „Hätte die Maschine auch das Apartment von meiner Frau und mir treffen können?“, schoss mir durch den Kopf. Das massive Fünfeck mit der hellbraunen Fassade war weiträumig abgesperrt. Feuerwehrleute, Polizisten und freiwillige Katastrophenhelfer stapften über Geröllhaufen. Dort, wo sich eine Boeing 757 in das Gebäude gerammt hatte, klaffte ein rund 30 Meter breiter Krater.

Der 11. September war ein derartiger Schock, dass er bis heute im kollektiven Gedächtnis der Menschheit fest verankert ist.
Der 11. September war ein derartiger Schock, dass er bis heute im kollektiven Gedächtnis der Menschheit fest verankert ist. © dpa | Beth A. Keiser

Vor dem gelb-schwarzen Plastikband standen mehrere Hundert Menschen. Sie schauten regungslos auf die Trümmerwüste, über der noch immer Qualm hing. Eine Frau schluchzte. Kabel, Plastikteile und Betonstümpfe ragten in die Luft. Das Symbol der militärischen Übermacht Amerikas, wo unzählige Kriege geplant wurden, lag auseinandergefaltet da wie eine Ziehharmonika.

Viele hatten sich die US-Flagge umgehängt, einige trugen ein Plakat mit der Aufschrift „United we stand“ – „Wir stehen zusammen“. Ich eilte ins Büro zurück und schrieb drei Artikel. Mittlerweile kursierte die Meldung, dass ein weiteres Flugzeug, das im Bundesstaat Pennsylvania abgestürzt war, eigentlich das Weiße Haus in Schutt und Asche legen sollte. Präsident George W. Bush hatte sich sicherheitshalber in die Air Force One zurückgezogen, die von Kampfjets eskortiert wurde.

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Verbale Kriegstrommeln für den Einsatz in Afghanistan

Gegen 20 Uhr fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause. Am späten Abend hielt Bush im TV eine Rede an die Nation. „Terroranschläge können zwar die Fundamente unserer größten Gebäude erschüttern, aber die Fundamente Amerikas können sie nicht berühren“, sagte er. Der Präsident wirkte ruhig, gefasst – und finster entschlossen.

„Sofort nach dem ersten Angriff habe ich den Krisenplan der Regierung in Kraft gesetzt. Unser Militär ist schlagkräftig und vorbereitet.“ Es waren verbale Kriegstrommeln für den Einsatz in Afghanistan. Jeder wusste: Die Drohung galt Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden, der unter dem Schutz der radikalislamischen Taliban die Attacken auf New York und Washington kaltblütig eingefädelt hatte. Der 11. September 2001, das ahnte ich bereits in dieser Nacht, war der Beginn eines neuen Zeitalters.