Berlin. Seit Herbst sinken die Asylzahlen. Doch in den Behörden wächst die Sorge. Diese Faktoren beeinflussen jetzt die deutsche Asylpolitik.
Es gibt ein Szenario, auf das in der Bundesregierung noch niemand so richtig eine Antwort weiß: Was passiert, wenn die russische Armee im Osten der Ukraine durchstößt? Das ukrainische Militär scheint so stark geschwächt wie noch nie seit Kriegsbeginn, es fehlen Soldaten, Munition und Geschütze. Ein Erfolg Russlands auf dem Schlachtfeld könnte die Flucht von Millionen von Menschen zur Folge haben. Was das für Deutschland bedeutet, erlebte das Land 2022, zu Beginn des Krieges: innerhalb weniger Monate einer Million Menschen Schutz geben, wobei mehrere Hunderttausend bereits wieder ausgereist sind.
Bis heute sind laut EU-Statistik ein Viertel aller Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland. Viele kamen privat bei Familien unter, das aber passiert längst nicht mehr so häufig wie zu Kriegsbeginn. Die Last tragen die Städte und Kommunen.
Noch einmal sei das kaum zu leisten, sagt ein ranghoher Beamter und bringt eine Luftbrücke ins Spiel – von Polen und Deutschland könnten Menschen aus der Ukraine in der Welt verteilt werden. Ähnlich hat es 2021 geklappt, als in Afghanistan die Taliban an die Macht kamen. Doch mit der Ukraine wären die Zahlen um ein Vielfaches höher. Und bisher ist es nur die Fantasie eines Fachmanns.
Vor einem Jahr trafen sich Bundeskanzler, Länderchefs und Kommunen zum großen „Flüchtlingsgipfel“. Der größte Faktor für die Lage hierzulande ist der Frontverlauf in der Ukraine – und damit verbundene Fluchtbewegungen. Doch in den Behörden blickt man mit Sorge auf weitere Entwicklungen, die Einfluss nehmen können. Einer etwa ist sehr simpel: die Jahreszeit.
Faktor „Sommer“: Die Zahlen sind gesunken, könnten aber wachsen
Im ersten Quartal 2024 verteilte Deutschland 46.051 Asylsuchende vor allem aus Syrien, Afghanistan und Türkei in den Bundesländern. Interessant ist: Noch mehr verteilte der Staat Geflüchtete aus der Ukraine, insgesamt 51.000 in diesen ersten drei Monaten. Der Krieg in der Ukraine – er wirkt sich derzeit stärker aus auf die Migrationslage in Deutschland als die Schutzsuchenden etwa aus Nahost.
Ab Mai dürften die Asylanträge in der Europäischen Union allerdings wieder steigen – so wie jedes Jahr im Sommer. Die Ausländerbehörden sind vielerorts stark belastet, Kommunen bauen leerstehende Gebäude zu Unterkünften um. Schätzungen gehen davon aus, dass 60 Prozent der Städte und Gemeinden am Limit sind bei der Versorgung von Geflüchteten. Vor allem kleine Kommunen und Großstädte sind betroffen. 40 Prozent sollen noch Kapazitäten haben. Das Problem aber: So genau weiß das niemand. Denn die Übermittlung der Daten über freie Betten klappt kaum – und schon gar nicht in Echtzeit.
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Die gute Nachricht für die Kommunen: Seit November sind die Zahlen an Geflüchteten zurückgegangen. Das liegt nur zum Teil an den Grenzkontrollen in Deutschland. Vor allem Serbien spielt eine zentrale Rolle: Das Land räumte Lager an der Grenze zu Ungarn, ging gegen rivalisierende Schleusergruppen vor. Serbiens umstrittene Polizeiaktionen sind spürbar, für Deutschland ist das, was auf der Balkanroute passiert, viel relevanter als der Zuzug von Geflüchteten etwa in Italien oder Spanien.
Was im Sommer kommt, kann niemand genau vorhersagen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Zahlen nicht das Niveau von 350.000 Asylanträgen wie 2023 erreichen werden. Behördenintern ist von „nur einer temporären Atempause“ die Rede.
Faktor „Türkei“: Für Deutschland hängt vieles von diesem Land ab
Was am Bosporus passiert, ist entscheidend für die Lage in Deutschland. Das wurde schon 2016 deutlich, als Kanzlerin Merkel ein Abkommen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan schloss: Innerhalb kürzester Zeit gingen die Flüchtlingszahlen deutlich runter. Aktuell leben in dem Land, von dem aus sich die Menschen über Griechenland und den Balkan bis nach Deutschland aufmachen, 3,7 Millionen Geflüchtete. Kein Staat weltweit nimmt laut Vereinten Nationen so viele Menschen auf.
Was hierzulande bisher kaum öffentlich Thema ist: Die Zahlen der Geflüchteten, die aus der Türkei die griechischen Inseln und damit die EU erreichen, steigen. Der türkische Staat will den Zuzug aus Syrien begrenzen. Zugleich wächst die Sorge, dass die Regierung in Ankara die Grenze Richtung Griechenland nicht mehr scharf kontrolliert. Momentan ist die Lage in den Lagern auf den griechischen Inseln noch ruhig.
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Hinzu kommt: Aus Griechenland reisen anerkannte Geflüchtete vor allem aus Syrien per Flieger weiter Richtung Deutschland – und beantragen hierzulande noch einmal Asyl. Die Sekundärmigration belastet seit Jahren die deutschen Asylstatistiken. Je höher der Zuzug von Geflüchteten aus der Türkei nach Griechenland, desto höher auch diese illegale Weiterreise. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) entsandte Mitte März ihren Staatssekretär nach Athen. Zentrales Thema war die Sekundärmigration. Und die Rücknahme von sogenannten Dublin-Fällen durch die griechischen Behörden.
Faktor „Schleppende Rückführungen“: Die Offensive stockt
Denn genau diese Dublin-Fälle belasten das deutsche Asylsystem stark. Nach der EU-Dublin-Verordnung müssen Asylanträge dort gestellt werden, wo Menschen die EU erstmals erreichen, etwa in Italien, Spanien oder eben Griechenland. Doch viele Menschen reisen weiter, obwohl sie in einem anderen EU-Land registriert sind. 2023 stellte Deutschland 74.622 sogenannte Dublin-Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten. In 55.728 Fällen stimmten die EU-Länder dem deutschen Antrag zu – doch nur in gut 5000 Fällen schickten die Behörden den Asylsuchenden auch tatsächlich zurück.
Ähnlich sieht die Bilanz bei den Abschiebungen ausreisepflichtiger Ausländer aus, etwa wenn der Asylstatus nicht anerkannt wird. Auch hier scheitern Abschiebungen oft, meist deshalb, weil Reisepapiere fehlen, die Identität der Person nicht geklärt werden kann, ihr Gewalt in der Heimat droht, oder sie in Deutschland eine Ausbildung finden. Fast 200.000 Menschen sind „geduldet“, 46.000 allerdings nicht.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) führt seit Ende vergangenen Jahres „beschleunigte Verfahren“ für Schutzsuchende aus Georgien und Moldau durch, und seit März auch für Algerien, Marokko und Tunesien. Staatsangehörige, die laut Behörden wenig Chance auf Asyl haben. In einem Großteil der Fälle bei Georgien und Moldau bearbeitet das Bamf die Fälle innerhalb von neun Tagen.
Alle Schutzsuchenden, egal ob Ukrainer oder Syrer, müssen von den Kommunen versorgt werden – der Bund beteiligt sich an einem Großteil der Kosten. Was aber fehlt, ist Wohnraum. Zudem sind die Ausländerbehörden überlastet. Die umstrittene Bezahlkarte für Geflüchtete soll nun beim Papierkram entlasten. Zugleich wirkt die Bundesregierung auf Migrationsabkommen mit den Herkunftsländern hin. Bisher gibt es erste Erfolge etwa mit Georgien und Marokko. Beides allerdings Staaten, aus denen nur wenige Geflüchtete kommen.