Düsseldorf. Der Stress der Staatsanwälte nimmt zu. NRW hat nun ein Rezept dagegen, das nicht allen Richterinnen und Richtern schmecken dürfte
Wenige Tage nach der spektakulären Kündigung von Deutschlands bekanntester Cum-Ex-Ermittlerin, Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, hat NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) am Freitag Maßnahmen zur Stärkung der gestressten Staatsanwaltschaften angekündigt.
Staatsanwälte in Not: Immer mehr Ermittlungen
Die Lage in de Staatsanwaltschaften spitzt sich zu: „Seit 2021 sehen wir einen erheblichen Anstieg an neuen Ermittlungsverfahren“, sagte Limbach. Zum Beispiel habe sich die Zahl der Ermittlungen zur Geldwäsche seit 2019 verfünffacht. Einen besonders starken Anstieg habe es auch bei Verfahren zur Verbreitung von Pornografie gegeben. Insgesamt waren laut der Landesregierung im Jahr 2023 in NRW 242.677 Ermittlungsverfahren bei den Staatsanwaltschaften noch unerledigt. Im Jahr 2019 seien es 175.824 gewesen.
Personalnot: NRW will Richter zu Staatsanwälten machen
Um die Situation zu entschärfen, will die Landesregierung einen „Belastungsausgleich“ zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften herbeiführen. Dabei sollen bis Ende 2024 insgesamt 100 Stellen aus den Gerichten an die Staatsanwaltschaften gehen. Zusammen mit neuen Stellen, die zuvor schon geplant waren, dürfe NRW mit 120 neuen Staatsanwältinnen und Staatsanwälten rechnen.
Personallücken in der Justiz möchte NRW zudem mit mehr Ausbildungsplätzen in der Rechtspflege und mit einem erleichterten Quereinstieg für andere Arbeiten, die in Staatsanwaltschaften anfallen, schließen.
Staatsanwalt ohne Top-Examen? In NRW ist das jetzt möglich
Der Generalstaatsanwalt in Hamm, Michael Schwarz, brachte zudem mit einer Ankündigung die bisher strengen Noten-Hürden für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ins Wanken. Es würden zunächst bis Ende 2025 auch Bewerbungen von Nachwuchs-Juristen akzeptiert, die kein Prädikatsexamen vorweisen könnten. „Wir erreichen damit mehr Beinfreihit bei der Einstellung“, sagte Schwarz.
Der Bund der Richter und Staatsanwälte in NRW hält die Maßnahmen für „völlig unzureichend“. Laut Geschäftsführer Gerd Hamme fehlten in NRW bis zu 500 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte.
Die Liberalen warfen Justizminister Limbach am Freitag „Flickschusterei“ vor. „Er unternimmt viel zu wenig, um das sinkende Justiz-Schiff in NRW zu retten. Anstatt das einschießende Wasser aufzuhalten, wischt er mit einem kleinen Lappen mal hier und mal dort“, sagte der FDP-Rechtsexperte im Landtag, Werner Pfeil. Um die Personalnot in den Staatsanwaltschaften in den Griff zu bekommen, müsse viel entschlossener gehandelt werden.
Opposition kritisiert Limbach: „Die Justiz ist kein Verschiebebahnhof“
„Seitdem Herr Limbach Justizminister in NRW ist, ist die Belastung in den Staatsanwaltschaften stark gestiegen“, kritisierte SPD-Fraktionsvize Elisabeth Müller-Witt. „Nun will er, dass 100 Stellen aus den Gerichten zu den Staatsanwaltschaften wechseln. Die Justiz ist aber kein Verschiebebahnhof. Der Minister reißt neue Löcher auf, um andere zu stopfen.“ Insgesamt seien in der NRW-Justiz über alle Aufgabenbereiche hinweg 2850 Stellen unbesetzt.
Vor welchem Hintergrund wird über die Staatsanwaltschaften geredet?
Das Staatsanwältinnen und Staatsanwälte gestresst sind, ist nicht neu. Die Belastung steigt seit Jahren, ablesbar am Personalbedarfsberechnungssystem „PEBB§Y“, dem ein Normal-Wert von 100 zugrunde liegt. Demnach stieg die „Belastungsquote“ in den Staatsanwaltschaften in NRW von 109 im Jahr 2019 auf zuletzt rund 124.
Am vergangenen Montag ließ die wohl bekannteste Staatsanwältin Deutschlands eine Bombe platzen: Die beste Cum-Ex-Ermittlerin, Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, kündigte überraschend ihren Job in der Kölner Justiz, um für die Nichtregierungsorganisation „Finanzwende“ zu arbeiten.
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) hatte 2023 vor, Brorhilker einen zweiten Chefermittler für Cum-Ex-Fälle an die Seite zu stellen. Das wurde ihm als „Entmachtungsversuch“ ausgelegt. Limbach zog zurück, scheint aber Brorhilker nachhaltig verprellt zu haben. Am Freitag lobte der Minister Brorhilker überschwänglich. Die Justiz verliere mit ihr eine „herausragende Persönlichkeit“, die bei der Aufklärung von Cum-Ex-Straftaten „Pionierarbeit“ geleistet habe.
Wie ist die Lage in den Staatsanwaltschaften?
Die Beschäftigten müssen immer mehr Fälle bearbeiten. Fast 243.000 blieben im Jahr 2023 unbearbeitet. Besonders stark steigen die Fallzahlen in den Bereichen Geldwäsche, Verbreitung pornografischer Schriften, Diebstahl sowie politische Strafsachen.
Die Personalausstattung bewerten die Landesregierung und der Bund der Richter und Staatsanwälte NRW (BDR) unterschiedlich. Laut Minister Limbach seien derzeit 96 Prozent der Staatsanwälte-Stellen in NRW besetzt. Bei den Generalstaatsanwaltschaften in Düsseldorf, Hamm und Köln gebe es derzeit rund 65 offene Staatsanwaltschaft-Stellen, hieß es am Freitag. Der BDR geht davon aus, dass in NRW bis zu 500 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte fehlen.
Wie will das Land helfen?
Erstens sollen aus den Gerichten heraus bis Ende 2024 insgesamt 100 Stellen an die Staatsanwaltschaften gehen. „Belastungsausgleich“ wird das genannt. Minister Limbach bewertet dies als „Ausdruck großer Solidarität“. Die Staatsanwaltschaften könnten diese Stellen selbst besetzen, Gerichte könnten aber auch Richter zu Staatsanwaltschaften „abordnen“.
Zweitens wurde schon im vergangenen Jahr die Zahl der Ausbildungsplätze in der Rechtspflege auf 350 erhöht. Rechtspflegerinnen und Rechtpfleger sind zuständig für die Vollstreckung von Geld-, Freiheits- und Bewährungsstrafen. Drittens soll der „Quereinstieg“ in die Staatsanwaltschaften erleichtert werden: Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte sowie Bürokaufleute kommen dafür in Frage. Volljuristen sollen motiviert werden, als Rechtspfleger oder Amtsanwälte zu arbeiten. Schließlich wackeln die etablierten Noten-Hürden für Top-Jobs in der Justiz.
Welche Note müssen angehende Staatsanwälte haben?
Bisher mussten Bewerber für die Top-Jobs in der Justiz ein „Prädikatsexamen“ vorzeigen. Das bedeutet mindestens 9,0 Punkte im zweiten Staatsexamen. Das gilt zwar immer noch, aber Bewerber, die mindestens 7,6 Punkte erreichen, konnten sich zuletzt schon in NRW Hoffnung auf eine Stelle in einer Staatsanwaltschaft machen, falls sie „zusätzliche Qualifikationen“ mitbringen. Die Notengrenze wird nun sogar auf 7,0 Punkte abgesenkt, falls weitere Qualifikationen vorhanden sind.
„Das Notensystem ist vielen Juristinnen und Juristen heilig. Das Prädikatsexamen hat über Jahrzehnte über Wohl und Wehe der Arbeitssuche entschieden“, sagte Benjamin Limbach. Es gebe aber immer weniger Absolventen. „Wenn wir sagen, wir meißeln die 9,0 Punkte in Stein, werden wir mit viel weniger Menschen in der Justiz auskommen müssen.“
Wie bewertet die Opposition die Maßnahmen?
SPD und FDP zerreißen Limbachs Pläne in der Luft. Der „Belastungsausgleich“ zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften sei eine Art „Verschiebebahnhof“, zürnt Elisabeth Müller-Witt (SPD). Ein Loch werde aufgerissen, um ein anderes zu stopfen.
Werner Pfeil (FDP) wirft Limbach „Augenwischerei“ vor. „250.000 unerledigte Ermittlungsverfahren stehen zu Buche! Zahlreiche weitere Verfahren in den Bereichen Cybercrime, Kinderpornografie und Corona-Subventionsbetrug stehen an. Minister Limbach muss seine Hausaufgaben machen, sonst sinkt das Justiz-Schiff“, so Pfeil.
Was sagt der Berufsverband der Richer und Staatsanwälte in NRW?
Die Kündigung der Cum-Ex-Expertin Anne Brorhilker sei ein „Alarmsignal für den Zustand der Staatsanwaltschaften“. Hamme hält nichts davon, Richterinnen und Richter in Staatsanwaltschaften zu verschieben. Das beschere den Gerichten nur mehr Arbeit, weil sie sich dann mit noch mehr ermittelten Fällen beschäftigen müssten. Eine bessere Grundbesoldung, bessere Arbeitsbedingungen und Aufstiegsmöglichkeiten seien geeignetere Instrumente, um Personalprobleme zu lösen. Das Absenken der Noten-Hürde sei „völlig falsch“, meint Hamme. Der Rechtsstaat lebe von der Qualität der Absolventinnen und Absolventinnen. Wer „Waffengleichheit“ im Gerichtssaal wolle, müsse auf Top-Juristen setzen.