Berlin. DGB-Chefin Yasmin Fahimi warnt: Arbeitnehmer, auch deutsche, meiden ostdeutsche Regionen – weil sich Rechtsextremisten breit machen.
Sie war schon SPD-Generalsekretärin, Staatssekretärin und Abgeordnete. Seit knapp zwei Jahren nun steht Yasmin Fahimi (56) an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Mit der Politik der sozialdemokratisch geführte Regierung hadert sie mitunter. Gleichwohl richtet sie eine scharfe Warnung an Oppositionsführer Friedrich Merz und andere Akteure.
Zwei Jahre Ampelregierung sind zwei verlorene Jahre für den Wirtschaftsstandort: Ist diese Kritik von Industriepräsident Russwurm ganz aus der Luft gegriffen?
Yasmin Fahimi: Ich muss mich doch wundern, wie vergesslich manche Wirtschaftsvertreter sind. Diese Bundesregierung hat uns in der größten Energiekrise richtig aus dem Sumpf geholt. Die Ampel hat die Energieversorgung sichergestellt und mit einer ganzen Reihe von Entlastungsmaßnahmen gegen den Inflationsschock bei den Beschäftigten angekämpft. Und sie hat wichtige Sozialreformen umgesetzt, zum Beispiel die Kinderzuschläge erhöht, die Erwerbsminderungsrente verbessert und Weiterbildung für Beschäftigte ausgebaut. Ich habe genügend Kritik an der Ampel, nicht zuletzt an ihrem Regierungsstil. Aber so zu tun, als ob nichts passiert wäre – die Kritik kann ich nicht nachvollziehen.
Ist die Lage besser als die Stimmung?
Der Standort Deutschland ist unzweifelhaft in einer angespannten Lage. Die Transformation zur klimaneutralen Wirtschaft muss gelingen, Deindustrialisierung können wir uns aber nicht leisten. Wir müssen die energieintensive Industrie entlasten, auch mit einem Brückenstrompreis. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch viele Managerfehler gemacht worden sind. Investitionen wurden verpennt, wichtige Weichen zu spät gestellt. Darüber reden die Wirtschaftsverbände lieber nicht, sondern zeigen auf die Politik. Vielleicht steckt dahinter auch Kalkül.
Wie findet die deutsche Wirtschaft aus der Stagnation?
Wir brauchen massive Investitionen. Das ist das Wichtigste. In den nächsten zehn Jahren müssen etliche hundert Milliarden Euro mobilisiert werden, um den Investitionsstau in Deutschland aufzulösen und den Jahrhundertaufgaben, die vor uns liegen, gerecht zu werden. Allein für Bildung brauchen wir etwa 300 Milliarden Euro. Der Ausbau der Infrastruktur – Verkehr, Energie, Digitales – erfordert ebenfalls mindestens 600 Milliarden. Dieses Geld kann in den kommenden Jahren nicht aus dem Regelhaushalt geholt werden – es sei denn, man zerschlägt den kompletten Sozialstaat.
Woher sollen Hunderte Milliarden Euro kommen?
Wir müssen über eine grundlegende Reform der Schuldenbremse reden. Die Schuldenregel im Grundgesetz ist viel zu restriktiv. Das sagen sogar die Wirtschaftsweisen. Es ist falsch, jetzt in der ideologischen Ecke stehen zu bleiben und Investitionen als Schulden für die nächste Generation zu diffamieren. Wir verspielen Zukunftschancen und vernichten Wohlstandspotenzial. Verschieben wir Investitionen in die Zukunft, müssen wir sie umso teurer bezahlen.
Um die Wirtschaft zu beleben, könnte man auch Steuern senken, Bürokratie abbauen – und die Arbeitszeit verlängern.
Ich warne davor, die Krise dafür zu nutzen, neoliberale Uraltrezepte aufzuwärmen. Sie verstellen den Blick auf die eigentlichen Potenziale, die wir haben und dringend nutzen müssen. Der Ruf nach längeren Arbeitszeiten ist beschämend. Viele Belegschaften stehen doch jetzt schon an der Grenze der Belastbarkeit. Wenn sie überschritten wird, gehen die Leute kaputt oder steigen aus. Die Altenpflege ist dafür nur ein Beispiel. Wir müssen uns auf die Mobilisierung von Arbeitskräften konzentrieren.
Sie sprechen von Zuwanderung.
Wir müssen verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland anwerben, das ist richtig. Aber es gibt auch viel Potenzial im eigenen Land. 2,6 Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren haben keine Ausbildung. 38 Prozent unserer Beschäftigten arbeiten in Teilzeit – vielfach auch unfreiwillig. Das sind Leute, die wir stärker in den Arbeitsmarkt bringen müssen. Ordentliche Schulabschlüsse sind dafür die Voraussetzung.
Gleichzeitig verleitet die Rente mit 63 viele Fachkräfte zum Vorruhestand. Wie passt das zusammen?
Das ist keine Rente mit 63, sondern eine Rente nach 45 Versicherungsjahren – und sie ist leistungsgerecht: Wer schon in der Jugend erwerbstätig war, hat irgendwann Anspruch, mit einer gesicherten Rente in den Ruhestand zu gehen. Außerdem sehen wir gerade in den überlangen Erwerbstätigkeiten einen hohen Anteil von Erkrankungen und Arbeitsunfähigkeit. Es macht keinen Sinn, die Leute arbeiten zu lassen, bis sie umfallen. Ich habe nichts dagegen, wenn Beschäftigte länger arbeiten. Aber es muss freiwillig sein.
Eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 69 oder 70 kommt für Sie überhaupt nicht infrage?
Nein. Das ist auch nicht notwendig. Das Rentenalter wird schrittweise auf 67 erhöht – und steigt dabei schneller als die prognostizierte Lebenserwartung. Im Übrigen haben wir unter den Industriestaaten ein eher überdurchschnittliches Renteneintrittsalter, aber nur ein durchschnittliches Rentenniveau. Ich kann diese aufgeregte Debatte überhaupt nicht nachvollziehen.
Apropos Fachkräfte: Wie wirkt sich der Höhenflug der AfD auf den Standort aus?
Ideell ist der Schaden jetzt schon sehr hoch. Die AfD schreckt Fachkräfte aus dem Ausland ab, und auch deutsche Arbeitnehmer sind nicht mehr bereit, in manche Regionen Ostdeutschlands umzuziehen. Das ist ein massives Problem. Man muss sich nur vorstellen, was passiert, wenn die Politik der AfD tatsächlich umgesetzt wird. Dann erlebt Deutschland einen dramatischen Wirtschaftseinbruch und Millionen Arbeitsplätze gehen verloren.
Im Herbst wählen Thüringen, Sachsen und Brandenburg einen neuen Landtag – und die AfD liegt in den Umfragen vorn. Könnte Deutschland einen AfD-Ministerpräsidenten vertragen?
Ich bin sehr ermutigt von den beeindruckenden Demonstrationen gegen Rechtsextremismus seit Anfang des Jahres. Die Gewerkschaften werden das mit einer Demokratie-Tour im Bündnis „Zusammen für Demokratie“ weiter unterstützen. Unsere Demokratie ist wehrhafter als vor 100 Jahren. Aber es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sie erhalten bleibt. Ein Ministerpräsident der AfD wäre ein katastrophales Zeichen für Deutschland im Ausland – und eine unmittelbare Bedrohung unserer Institutionen.
Der DGB ist ein politischer Verband. Haben Sie Kontakte zur AfD?
Nein. Es ist wichtig, absolute Brandmauern aufrechtzuerhalten. Diese Partei ist rassistisch, menschenverachtend und arbeitnehmerfeindlich. Es gibt für uns keinen Anlass, mit der AfD in irgendeinen Austausch zu treten.
Was machen Sie mit Gewerkschaftsmitgliedern, die mit der AfD sympathisieren oder sogar Mitglied bei den Rechtsextremisten sind?
Wer AfD-Funktionär ist oder sich offen als Parteimitglied ausweist, wird beim DGB kein Funktionär werden und kommt auch nicht auf Gewerkschaftslisten.
Ein AfD-Mitglied fliegt aber nicht automatisch raus?
Das lassen die rechtlichen Bestimmungen, an die Gewerkschaften gebunden sind, nicht ohne weiteres zu. Wer sich allerdings in Wort, Schrift oder Tat gegen unsere Werte stellt, kann ausgeschlossen werden. Klar ist für mich: Wer die Politik der AfD vertritt, kann nicht gleichzeitig für die Gewerkschaft sprechen.
Welchen Beitrag wollen die Gewerkschaften zur Sicherung des Wohlstands leisten? Halten Sie sich in Tarifverhandlungen zurück, um schwächelnde Unternehmen zu entlasten?
Ganz im Gegenteil: Wir müssen die Reallöhne stabilisieren. Das ist ein Beitrag zur Stärkung der Kaufkraft. Ich wehre mich auch gegen die Behauptung, dass Lohnsteigerungen ein Inflationstreiber wären. Kein Ökonom konnte das in den vergangen zwei Jahren belegen.
Haben ausufernde Arbeitskämpfe wie bei den Lokführern Ihre ungeteilte Sympathie?
Ich finde es absurd, mit welcher Aufgeregtheit einige in der Politik über das Streikrecht diskutieren. Es ist ein von der Verfassung geschütztes Grundrecht. Im Übrigen finden 95 Prozent der Tarifverhandlungen ganz im Stillen und ohne Streik statt. Wir haben im europäischen Vergleich unterdurchschnittliche Streiktage und ein restriktives Streikrecht.
Die Lokführerstreiks haben sich über Monate gezogen. Das war Anlass für die Union, eine Einschränkung des Streikrechts zu fordern.
Dann macht sie Beschäftigte zu Bettlern. Tarifautonomie funktioniert nur, wenn es auch ein Streikrecht gibt. Geld regiert die Welt – da sitzen die Arbeitgeber am längeren Hebel. Wenn sich eine Verhandlung verhakt, müssen wir eben deutlich machen können: Ohne uns könnt ihr nicht Profit machen. Das Streikrecht ist ein hohes Gut, mit dem man nicht eben mal so rumspielen kann.
Ist das Ihre Warnung vor einem Bundeskanzler Merz?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich klar dazu geäußert. Und in meinen jüngsten Gesprächen mit Friedrich Merz habe ich auch nicht vernommen, dass er das Streikrecht verändern will. Unabhängig davon, kann ich jeden nur davor warnen, Beschäftigte und Gewerkschaften mit solchen Maßnahmen zu provozieren.
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